Das fünfte Zeichen
vorzuschieben, und dass sie in Wahrheit von ihm verlangte, ihre Bedürfnisse wichtiger zu nehmen als die Suche nach Ellens Mörder. Da hatte sie gesagt, Ellens Geist verfolge ihn, und er habe sic h a n eine Tote gehängt. Es sei nicht normal, wie er mit dieser Tragödie umgehe, dass das an Nekr o philie grenze. Er handele nicht Ellen zuliebe, sondern nur aus Rachgier: » Jemand hat dich verletzt. Und alles andere soll dahinter zurückstehen, damit du deine Rache bekommst. «
Als Harry aus dem Wohnzimmer stürmte, hatte er einen Zipfel von Olegs Pyjama gesehen und ein Paar ängstlicher Augen hinter den Streben des Treppengeländers.
Danach hatte er sich nur noch auf die Suche nach dem Schu l digen konzentriert. Er hatte im Lichtschein schwacher Lampen E-Mails gelesen, auf schwarze Fenster von Villen und Stadthä u sern gestarrt und auf Personen gewartet, die niemals herauska men. Und sich nur wenige Stunden Schlaf in seiner Wohnung in der Sofies Gate gegönnt.
Die Tage waren heller und länger geworden, doch er hatte nichts herausgefunden.
Und eines Nachts hatte sich plötzlich ein Albtraum aus seiner Kindheit wieder gemeldet. Søs. Die sich mit den Haaren verfangen hatte, lähmende Angst im Gesicht. Seine eigene Starre. Der Traum war in der nächsten Nacht zurückgekehrt. Und in der darauf folgenden.
Øystein Eikeland, ein Jugendfreund, der immer im Malik ’ s saß und trank, wenn er nicht gerade Taxi fuhr, hatte gesagt, Harry sehe müde aus, und ihm billigen Speed angeboten. Harry hatte abgelehnt und sein einsames Rennen fortgesetzt, in rasender Erschöpfung.
Es war nur eine Frage der Zeit, bis alles den Bach runterging.
Etwas so Prosaisches wie eine unbezahlte Rechnung hatte den Absturz schließlich ausgelöst. Es war Ende Mai, und er hatte seit einigen Tagen nicht mit Rakel gesprochen, da weckte ihn in seinem Bürostuhl das Klingeln des Telefons. Rakel berichtete, das Reisebüro habe gemahnt, wegen der Überweisung für das Haus in der Normandie. Sie hätten noch eine Woche, danach würde das Reisebüro das Haus in dieser Zeit an andere Mieter vergeben.
» Freitag ist Deadline «, war das Letzte, was Rakel vor dem Auflegen gesagt hatte.
Harry war auf die Toilette gegangen, hatte sich kaltes Wasser ins Gesicht geklatscht und war dem Blick seines eigenen Spiegelbildes begegnet. Aus einem Paar blutunterlaufener Augen mit dunklen Ringen unter dem blonden, nassen Haar. Vor Müdigkeit eingefallene Wangen. Er hatte zu lächeln versucht. Gelbe Zähne grinsten ihn an. Er hatte sich selbst nicht wiedererkannt. Und er hatte verstanden, dass Rakel Recht hatte. Langsam musste Schluss sein. Für ihn und Rakel. Für ihn und Ellen. Für ihn und Tom Waaler.
Am gleichen Tag war er zu seinem Chef gegangen, Bjarne Møller, dem Einzigen im Präsidium, dem er zu hundert Prozent vertraute. Møller hatte abwechselnd genickt und mit dem Kopf geschüttelt, als Harry mit seinem Anliegen herausrückte, und schließlich gesagt, dass das zum Glück nicht seine Sache sei. Harry müsse direkt mit dem Kriminaldirektor sprechen. Und er solle auf jeden Fall noch einmal darüber nachdenken, ehe er dorthin ging. Harry war jedoch direkt von Møllers viereckigem Büro zum ovalen Arbeitszimmer des Direktors gegangen, hatte angeklopft, war eingetreten und hatte erzählt. Von dem Zeugen, der Tom Waaler gemeinsam mit Sverre Olsen gesehen hatte. Von der Tatsache, dass gerade jener Tom Waaler bei der Festnahme Olsen erschossen hatte. –Nur das. Nicht mehr. Denn das war alles, was er in den fünf Monaten mühsamer Kleinarbeit herausgefunden hatte. Fünf Monate auf der Jagd nach einem Schatten, fünf Monate an der Grenze zum Wahnsinn.
Der Kriminaldirektor hatte Harry gefragt, was für ein Motiv Tom Waaler gehabt haben sollte, Ellen Gjelten zu töten.
Harry hatte geantwortet, dass Ellen über gefährliche Inform a tionen verfügt habe. Am Abend ihres Todes habe sie ihm eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter hinterlassen, aus der hervorging, dass sie wusste, wer der » Prinz « war. Wer die Fäden in der Hand hielt bei den illegalen Waffenim porten, durch die Oslos Kriminelle plötzlich bis an die Zähne mit professionellen Handfeuerwaffen bewaffnet waren.
» Leider kam mein Rückruf zu spät «, hatte Harry gesagt und versucht, den Gesichtsausdruck des Kriminaldirektors zu deuten.
» Und Sverre Olsen? «, hatte der Polizeichef gefragt.
» Als wir Olsen auf die Spur kamen, hat der › Prinz ‹ ihn ausg e schaltet, damit wir nicht erfuhren, wer
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