Das fünfte Zeichen
starrte auf den zerstörten Stern im Fenster. Er war verbogen und nach innen gedrückt, so dass zwei der fünf Zacken nach oben zeigten und einer nach unten. Sie hatte dieses Zeichen schon einmal gesehen, in einem Buch. Und obwohl die Nacht tropisch warm war, zog sie die Jacke enger um sich.
Mitternacht war vorbei, und der Mond spiegelte sich in den Fenstern des Präsidiums. Bjarne Møller ging über den leeren Parkplatz zum Untersuchungsgefängnis. Er trat ein und blickte sich um. Die drei Schalter waren unbesetzt, doch zwei Beamte sahen im Nachbarraum fern: Ein Mann sieht rot. Als alter Charles Bronson-Fan erkannte Møller den Film. Und er erkannte den älteren der beiden Wachhabenden. Groth, den man wegen der leberfarbenen Narbe auf der Wange unter dem linken Auge » Träne « nannte. Solange sich Møller erinnern konnte, arbeitete Groth hier, und alle wussten, dass er der eigentliche Motor der Abteilung war.
» Hallo! «, rief Møller.
Ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen, hob Groth den Zeigefinger, und deutete auf den jüngeren Beamten, der sich widerwillig auf dem Stuhl herumdrehte.
Møller wedelte mit seinem Ausweis, doch das war überflüssig, denn offenbar wusste man, wer er war.
» Wo sitzt Hole? «, rief er.
» Der Spinner? «, schnaubte Groth. Charles Bronson hob die Pistole, um Rache zu nehmen.
» Ausnüchterungszelle fünf, glaube ich «, sagte der jüngere Beamte. » Fragen Sie drinnen einen der Verteidiger. «
» Danke «, sagte Møller und öffnete die Tür zum Zellentrakt.
Das Gefängnis verfügte über etwa hundert Zellen, und die Belegung war saisonabhängig. Jetzt war definitiv keine Saison. Møller ging an der Tür des Anwaltsbüros vorbei, zwischen den vergitterten Zellen hindurch. Das Echo seiner Schritte hallte von den Wänden wider. Er hatte das Gefängnis noch nie ausstehen können. Zum einen weil hier lebendige Menschen eingesperrt waren. Zum anderen wegen des Geruchs nach Gosse und zerstörten Existenzen. Und drittens wegen der Dinge, die hier geschehen waren. Etwa die Geschichte mit dem Häftling, der Groth angezeigt hatte wegen angeblicher gewalttätiger Übergri f fe mit einem Feuerwehrschlauch. Die SEFO hatte die internen Ermittlunge n e ingestellt, nachdem sie den Schlauch abgerollt und gemessen hatten, dass er nicht annähernd bis zu der Zelle reichte, in der die Quälerei stattgefunden haben sollte. Vermu t lich waren die Beamten der SEFO die Einzigen im Präsidium, die nicht wussten, dass Groth einfach den Schlauch gekürzt hatte, als er sah, was auf ihn zukommen würde.
Wie die anderen Ausnüchterungszellen hatte auch Zelle 5 kein Schloss, sondern wurde mit einem einfachen Mechanismus verriegelt, der nur von außen geöffnet werden konnte.
Harry saß, den Kopf in die Hände gestützt, in der Mitte der Zelle. Møller fiel als Erstes die blutgetränkte Bandage an der rechten Hand auf. Harry hob langsam den Kopf und sah ihn an. Er hatte ein Pflaster auf der Stirn, und seine Augen waren geschwollen. Als hätte er geweint. Es roch nach Erbrochenem.
» Warum liegst du nicht auf der Pritsche? «, fragte Møller.
» Ich will nicht schlafen «, flüsterte Harry mit kaum wiederz u erkennender Stimme. » Will nicht träumen. «
Møller schnitt eine Grimasse, um seine Erschütterung zu verbergen. Er hatte Harry früher schon einmal am Boden gesehen, doch nicht so … tief unten, so zerstört.
Er räusperte sich: » Lass uns gehen. «
Die » Träne « Groth und der junge Beamte würdigten sie nicht eines Blickes, als sie am Wachraum vorbeikamen, doch Møller entging Groths vielsagendes Kopfschütteln nicht.
Auf dem Parkplatz erbrach Harry sich. Er stand gebeugt da und spuckte fluchend, während sich Møller eine Zigarette anzündete und sie ihm reichte.
» Sie haben den Vorfall nicht zu den Akten genommen «, sagte Møller. » Das Ganze bleibt inoffiziell. «
Harry hustete vor Lachen. » Danke, Chef. Gut zu wissen, dass mir mit so sauberer Akte wie möglich gekündigt werden soll. «
» Deswegen mache ich das nicht. Aber sonst müsste ich dich mit augenblicklicher Wirkung vom Dienst suspendieren. «
» Na und? «
» Ich brauche in den nächsten Tagen einen Ermittler wie dich. Das heißt wie dich, wenn du nicht getrunken hast. Die Frage ist also, ob du es schaffst, nüchtern zu bleiben. «
Harry richtete sich auf und stieß den Rauch hart aus. » Chef, du weißt gut, dass ich das kann, aber will ich das? «
» Das weiß ich doch nicht! Willst du, Harry? «
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