Das fünfte Zeichen
gefragt. Sie strich ein letztes Mal über die Decke auf dem Bett und stand auf: » Ich gehe nach drüben und setze frisches Teewasser auf. «
E s war eine Offenbarung. Kein Wunder, bloß eine Offenbarung.
Kaum eine halbe Stunde nach dem Abschied von den anderen war Harry bereits noch einmal die Verhörprotokolle der beiden Frauen durchgegangen, die gegenüber von Lisbeth Barli wohn ten. Er schaltete die Leselampe auf seine m B üroschreibtisch aus und blinzelte ins Dunkel. Plötzlich war es da. Vielleicht weil er das Licht ausgemacht hatte, wie man es tut, wenn man sich ins Bett schlafen legt. Oder weil er einen Moment lang aufgehört hatte nachzudenken. Wie auch immer, es war, als halte ihm jemand eine klare, scharfe Fotografie vor die Nase.
Er ging in das Büro, in dem die Schlüssel der Tatorte verwahrt wurden, und fand, was er suchte. Dann fuhr er in die Sofies Gate, holte seine Taschenlampe und ging zu Fuß zum Ullevålsvei. Es war beinahe Mitternacht. Die Wäscherei im Erdgeschoss hatte die Jalousien heruntergelassen, beim Stei n metz beleuchtete ein Spot die Aufschrift » Ruhe in Frieden «.
Harry schloss die Tür von Camilla Loens Wohnung auf.
Alle Möbel waren noch am Platz, und doch hallten seine Schritte. Als sei durch das Ableben der Bewohnerin in der Wohnung eine physische Leere entstanden, die zuvor nicht da gewesen war. Und gleichzeitig hatte er das Gefühl, nicht allein zu sein. Harry glaubte an die Existenz der Seele. Nicht weil er besonders religiös war, sondern weil ihn eine Sache beim Anblick einer Leiche stets anrührte: Der Körper hatte etwas verloren, das sich nicht mit der rein physischen Veränderung erklären ließ, die Körper im Tod nun einmal erfahren. Der Körper glich der leeren Hülle des Insekts in einem Spinnennetz –das Wesen, das Licht war verschwunden, der illusorische Widerschein längst explodierter Sterne. Der Körper war entseelt. Es war die Abwesenheit der Seele, die Harry glauben ließ.
Er schaltete keine Lampe an, der Mondschein reichte, der durch die Dachfenster hereinfiel. Harry ging direkt ins Schla f zimmer, wo er die Taschenlampe anmachte und den Lichtkegel auf den Tragbalken neben dem Bett richtete. Er hielt die Luft an. Das war kein Herz über einem Dreieck, wie er beim ersten Mal geglaubt hatte.
Harry setzte sich aufs Bett und fuhr mit den Fingerkuppen über die Kerben im Holz. Die Wunden in dem nachgedunkelten Holz waren so hell, dass sie noch ganz frisch sein mussten. Das heißt die eine Wunde. Eine lange Wunde, bestehend aus einer einzigen Linie, die sich immer wieder kreuzte. Ein Pentagramm.
Harry richtete den Schein der Taschenlampe auf den Boden. Eine feine Schicht Staub und ein paar dicke Wollmäuse bedec k ten das Parkett. Camilla Loen hatte offensichtlich nicht sauber gemacht, bevor sie für immer gegangen war. Doch dort, neben dem hintersten Bein des Bettes, fand er, wonach er suchte. Holzsplitter.
Harry streckte sich auf dem Bett aus. Die Matratze war weich und nachgiebig. Er starrte an die Dachschräge und versuchte sich zu konzentrieren. Wenn wirklich der Täter den Stern über das Bett geritzt hatte, was hatte das zu bedeuten?
» Ruhe in Frieden «, murmelte Harry und schloss die Augen.
Er war zu müde, um klar zu denken. Denn noch eine weitere Frage geisterte ihm im Kopf herum. Warum war ihm das Penta gramm überhaupt aufgefallen? Die Diamanten waren ja nicht zum Fünfzack geschliffen. Es waren ganz normale Sternformen, wie man sie überall fand. Warum hatte er dann diese zwei Dinge miteinander in Verbindung gebracht? Hatte er das? Vielleicht war er zu schnell gewesen. Vielleicht hatte sein Unterbewuss t sein das Pentagramm mit etwas anderem in Verbindung gebracht, etwas, das er ebenfalls an einem der Tatorte bemerkt hatte, auf das er aber jetzt nicht mehr kam?
Er versuchte, sich die Tatorte noch einmal ins Bewusstsein zu rufen.
Lisbeth in der Sannergata. Barbara am Carl Berners Plass. Und Camilla. Hier. In der Dusche im Zimmer nebenan. Sie war fast nackt gewesen. Nasse Haut. Er hatte sie berührt. Das warme Wasser hatte den Eindruck erweckt, der Mord sei vor nicht langer Zeit verübt worden. Er hatte ihre Haut berührt. Beate hatte ihn beobachtet, aber er hatte nicht aufhören können. Es war, als würde man mit den Fingern über warmes, glattes Gummi streichen. Er sah auf. Sie waren allein, und erst jetzt spürte er den warmen Strahl aus der Dusche. Er blickte auf sie hinab. Camilla starrte ihn mit einem merkwürdigen Glanz in
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