Das fünfte Zeichen
trauen konnte. Sie hatte etwas noch Wertvolleres bekommen, das sie nicht verli e ren durfte. Sie hatte ihm noch nichts gesagt, sie war sich selbst nicht sicher gewesen. Bis sie vor drei Tagen beim Arzt gewesen war. Sie glitt aus dem Bett und schlich sich nach draußen. Drückte die Klinke leise herunter, während sie einen Blick in den Spiegel über der Kommode warf, sein Gesicht betrachtete. Dann war sie im Flur und schloss die Tür vorsichtig hinter sich.
Der moderne Samsonite-Koffer war bleigrau. Er war fast neu. Trotzdem waren die Seiten verkratzt und voller halb abgeriss e ner Aufkleber irgendwelcher Sicherheitskontrollen und Destina tionen, von denen sie noch nicht einmal gehört hatte.
In dem sparsamen Licht erkannte sie, dass die Nummernko m bination auf Null-Null-Null gestellt war. Das war sie immer. Und sie brauchte sich nicht zu vergewissern, sie wusste, der Koffer würde sich nicht öffnen lassen. Sie hatte den Koffer nie offen gesehen. Außer einmal, als sie im Bet t g elegen und zugeschaut hatte, wie er die Kleider aus den Schubladen genommen und in den Koffer gepackt hatte. Ganz zufällig hatte sie bemerkt, dass die Nummernkombination auf der Innenseite des Deckels stand. Und es war nicht sonderlich schwer, sich drei Zahlen zu merken. Nicht, wenn man musste. Alles andere vergessen und sich drei Zahlen merken, die Nummer eines Hotelzimmers, wenn sie anriefen und sagten, sie sei gewünscht und was sie anhaben solle, oder dass es andere spezielle Wü n sche gebe.
Sie lauschte. Das Schnarchen hinter der Tür klang wie ein leises Sägen.
Es gab Dinge, von denen er nichts wusste. Dinge, die er nicht wissen musste. Dinge, die sie hatte tun müssen. Doch das alles gehörte jetzt der Vergangenheit an. Sie legte die Fingerkuppen auf die kleinen gezackten Rädchen und drehte. Von jetzt an zählte nur noch die Zukunft.
Die Schlösser sprangen mit einem weichen Klicken auf.
Sie blieb in der Hocke sitzen und starrte in den Koffer.
Unter dem Deckel lag oben auf einem weißen Hemd ein hässliches Ding aus Metall.
Sie brauchte sie nicht anzufassen, um zu wissen, dass die Pistole echt war. Sie hatte so etwas schon einmal gesehen, in ihrem früheren Leben.
Sie schluckte und spürte die Tränen kommen. Presste sich die Finger auf die Augen. Flüsterte zweimal leise den Namen ihrer Mutter.
Es dauerte nur ein paar Sekunden.
Dann atmete sie tief und leise ein. Sie musste überleben. Sie beide mussten überleben. Das erklärte jedenfalls, warum er nicht so viel darüber erzählen konnte, was er machte und womit er so gut verdiente, wie er es offensichtlich tat. Wenn sie ehrlich war, hatte sie schon einmal diesen Verdacht gehegt.
Sie fasste einen Entschluss.
Es gab Dinge, die sie nicht wusste. Dinge, die sie nicht zu wissen brauchte.
Sie schloss den Koffer und drehte die Zahlen wieder auf Null. Lauschte an der Tür, ehe sie diese vorsichtig öffnete und ins Zimmer schlüpfte. Ein Rechteck aus Licht fiel vom Flur über das Bett, und hätte sie einen Blick in den Spiegel geworfen, ehe sie die Tür leise ins Schloss drückte, sie hätte bemerkt, dass er ein Auge geöffnet hatte. Doch sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt. Oder besser gesagt, mit diesem einen Gedanken, der ihr wieder und wieder durch den Kopf ging, während sie dalag und dem Verkehr lauschte, dem Kreischen aus dem Zoologischen Garten und seinem tiefen, gleichmäßigen Atem. Dass von nun an nur noch die Zukunft zählte.
E in Schrei, eine Flasche, die auf dem Bürgersteig zerbrach, gefolgt von heiserem Lachen. Fluchen und schnelle Schritte, die klappernd über die Sofies Gate in Richtung Bislettstadion verschwanden.
Harry starrte an die Decke und lauschte den Geräuschen der Nacht. Er hatte drei traumlose Stunden geschlafen, ehe er aufgewacht war und zu denken begonnen hatte. An drei Frauen, zwei Tatorte und einen Mann, der einen hohen Preis für seine Seele geboten hatte. Er versuchte, darin ein System zu erkennen. Den Code zu dechiffrieren. Das Muster zu erfassen. Das zu verstehen, was Øystein als die Dimension hinter dem Muster bezeichnet hatte, die Frage, die vor dem » Wie « kam: » Warum? «
Warum hatte sich ein Mann als Fahrradkurier verkleidet und zwei Frauen und wahrscheinlich auch eine dritte getötet? Warum hatte er es sich mit der Wahl seiner Tatorte so schwer gemacht? Warum ließ er Botschaften zurück? Wenn erfahrung s gemäß die Handlungen aller Serienmörder sexuell motiviert waren, warum gab es dann
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