Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
Vom Netzwerk:
übertragen lässt, das eigene Leben klein macht vor einem selbst. Diesem Schrumpfungsprozess müsste man sich entgegenstemmen, am besten wohl mit Liebe und Leidenschaft. Eine Art Mobilmachung menschlicher Regungen, die allesamt von einem selbst weg zu jemand anderem hinführen. Wem aber – wie meiner Mutter – ein solches Gegenüber die größte Utopie bedeutet, so groß, dass es keinen Schmerz mehr bereitet, sie nicht zu erreichen, der betreibt einen gewissen Aufwand damit, die bestehenden Verhältnisse zu verwalten, sie – im Fall meiner Mutter – in einen Nebel aus Pflanzen- und Tierliebe, Fernsehen, Prosecco und Zigaretten zu hüllen, um in diesem Nebel für eine unbestimmte Zeit verlorenzugehen.
    »Du und diese Frau, ihr habt doch in Wahrheit gar nichts miteinander gemein. Der Kerl hat eben seinen Schwanz mal hier, mal dort hineingesteckt. Das ist alles. Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.«
    Die allergrößte Bewegung – der Sturm im Wasserglas – stellt in einem solchen Leben die eigene Vergangenheit dar. (Falls das nicht ohnehin für alle Menschen gilt und unter den Bedingungen, wie meine Mutter sie sich geschaffen hat, lediglich deutlicher hervortritt.) Wenn ich mit meiner Mutter telefoniere, lädt sie mich im Laufe des Gesprächs unausgesprochen dazu ein, an ihr Leben heranzutreten wie an einen gedeckten Tisch. Sie wünscht sich, ich würde mir die Geschichte ihres Lebens einverleiben wie eine Speise und in der gleichen Weise Geschmack daran finden wie sie selbst. Wenn wir einander auf der cremefarbenen Ledercouch unter den abgeschrägten, holzvertäfelten Fenstern ihrer Dachterrassenwohnung gegenübersitzen, über die Jahre begleitet und unterbrochen vom Rezitativ der immer gleichen Phrase – »Mama, du rauchst zu viel!« –, fährt sie sich wie nebenbei durchs Haar, bleibt ihr Blick scheinbar absichtslos am Fernseher, auf den Blumen am Balkon oder der Obstschale auf dem Esstisch hängen. Trotzdem oder gerade deshalb spüre ich, wie angespannt sie ist, wie sehr sie darauf lauert, an welcher Stelle ihrer Litanei – warum ihr Leben so verlaufen ist, wie es verlaufen ist – ich ihren Erzählfluss unterbrechen, ihr ins Wort fallen werde, um ein Ereignis aus ihrem Leben in einem anderen Licht zu sehen, völlig andere Konsequenzen daraus zu ziehen. Was meine Mutter zu der Bemerkung veranlasst, ich hätte leicht reden, ich hätte ja nicht in ihrer Haut gesteckt. Dagegen lässt sich schwer etwas sagen – auch wenn es natürlich das klassische Totschlagargument dafür ist, um sich vor jeder Einmischung von außen abzuschotten, gleich, wie viel man selbst über sich weiß oder wissen will. Meine Mutter fürchtet indes nicht so sehr, dass ich ihre Vergangenheit umschreiben könnte, sondern ihre Gegenwart. Schon immer ist es mir ein Anliegen gewesen, ihr Leben der Beugehaft der ersten zwanzig Jahre zu entreißen – anfangs um meinet-, im Lauf der Zeit jedoch um ihretwillen. Aber sie hält an ihnen fest wie an einem alten, abgewetzten Kuscheltier. Anstatt sie zu entsorgen, hütet sie sie wie einen Schatz, dessen Besitz einen nicht reich, geschweige denn glücklich macht, aber der dennoch ihrem Leben einen unverwechselbaren Glanz verleiht – wenn auch einen düsteren.
    Was bedeutete diese Düsternis für mich? Dass ich an das Leben meiner Mutter zwar herantreten, es mir gemeinsam mit ihr einverleiben, jedoch nie ganz darin eintauchen konnte oder wollte, obwohl ich ihm doch entsprang, Fleisch von ihrem Fleisch. (Ich weiß, sie wäre empört über diese Zeilen, sie, die – wie sie sagt – doch jeden Tag an mich denkt, ob es mir gut geht, ob ich es schaffe. Ich weiß, dass es so ist. Und dennoch liefert das verwendete Verb – denken – einen verräterischen Hinweis auf das unglückliche Ineinanderfallen von großer Nähe und großer Distanz, der für unseren Umgang seit jeher prägend war.)
    »Man hört ja immer wieder von solchen Menschen, die sich eines Tages auf die Suche nach ihrem Vater, ihrer Mutter oder irgendwelchen anderen Verwandten machen. Mir ist das schleierhaft. Ich meine, wenn man das als Kind macht, das kann ich noch verstehen. Aber als erwachsener Mensch. Das ändert gar nichts mehr. Weil man sein Leben schon gelebt hat. Man hat nicht mehr die Unbekümmertheit der Jugend. Man kann sich die Dinge nicht mehr schönreden. Geschweige denn sie ungeschehen machen. Wer glaubt, dass sich die Dinge für ihn zum Besseren wenden oder er auch nur einigermaßen befriedigende Antworten auf seine Fragen

Weitere Kostenlose Bücher