Das fuenfunddreißigste Jahr
bekommt, nur weil er plötzlich mit fünfunddreißig, vierzig Jahren seinem Erzeuger gegenübersteht, ist ein Narr.«
Die Worte, die sie mit einer vom Nikotin aufgerauhten Stimme spricht, lassen mich an Metall denken. Eisenware, die auf einem Schrottplatz vor sich hin rostet. Ich stelle mir ihr Gesicht vor: die hochgezogenen Augenbrauen; die am vorderen Ende des Höckers breite Nase in dem an sich kleinen, zarten, jedoch nicht spitzen Gesicht, das, wie der ganze Körper, der Tatsache Tribut zollen muss, dass sie sich in jungen Jahren hemmungslos dem Sonnenbaden hingab. Ihr leicht hochmütiger, von ihrer im Alter schwindenden Gefallsucht abgemilderter Gesichtsausdruck, der irritiert, da – wenn man genau hinsieht – in seinem Zentrum ein schüchternes, verletztes Paar graublauer Mädchenaugen funkelt. Ihr energisches, männliches Kinn, das davon kündet, wie sehr sie sich immer wieder dazu gezwungen fühlte, die darüber liegenden Zähne zusammenzubeißen und die traditionelle Rolle des Mannes zu übernehmen. Der dünne Strich des Mundes, der sich nichtsdestoweniger zu einem herzlichen Lachen weiten kann. Die Haare, die sie – unaufhaltsam auf die sechzig zugehend – auf meinen Ratschlag hin nicht mehr grellblond färben lässt, sondern in einem blasseren Ton, dem das Herausfordernde der jahrzehntelang aufgetragenen Tönung fehlt. Fast scheint es, als habe dieser Wechsel der Farbe eine Veränderung im Wesen meiner Mutter mit sich gebracht: Sie ist weicher, verbindlicher und damit zugänglicher geworden – nicht zuletzt, was die Meinungen anderer Menschen betrifft. Während sie mit dieser Altersschwäche (so zumindest empfindet sie es) zu kämpfen hat, versuche ich ihr einerseits zu vermitteln, dass diese vermeintliche Schwäche sie in meinen Augen stärker erscheinen lässt, da sie nicht mehr den alleinerziehenden Herrn im Haus geben muss, der ständig mit etwas beschäftigt ist, sich selbst – und dadurch auch den anderen – kaum einmal eine Pause gönnt. Andererseits verlieh ihr diese Männlichkeit – gerade aufgrund ihres zierlichen Körpers, ihrer blonden Mähne, ihrer lackierten Fingernägel – eine markante Kontur. Der Preis dafür war der Verlust vieler gemeinhin als weiblich angesehener Eigenschaften, für die sie selbst oft nur Spott übrighatte. Die Rolle verhalf ihr zu einer hektischen, nur unter großem Druck aufrechterhaltenen Sicherheit. Ihr Verlust befreit sie von diesem Druck, lässt sie entspannter, transparenter erscheinen. Gleichzeitig ist – spätestens, seit sie von ihrer Firma in die Frühpension komplimentiert wurde – der Mangel an Sicherheit, an Regeln, die den Alltag formen, so groß, dass ich manchmal das Gefühl habe, ihr Wesen oder das, was sie ein Leben lang ausgemacht hat, fließt nach allen Seiten hin davon. Vielleicht würde ich in ihrer Situation um diese Zeit ja auch zwei Prosecco getrunken haben, wenn ich mit meinem aufreizend gelassenen, besserwisserischen Sohn telefoniere, von dem ich andererseits genau weiß, dass er selber voller Vorurteile ist und sein Leben auch nicht wirklich in den Griff kriegt.
»Also, was machst du jetzt? Triffst du dich jetzt mit dieser Person oder nicht?«
Es kann leicht sein, dass sie während des Gesprächs an ihren Blumen hantiert. Ein verdorrtes Blatt von einem Stiel zupft. Oder das in Schichten in- und übereinander wuchernde Geflecht ihrer Farngewächse vorsichtig entwirrt und mit dem Wasser aus dem Zerstäuber benetzt. Sie darf sich dabei ein bisschen wie Gott fühlen, der es auf ein Waldstück regnen lässt. Ein einzelnes Fiederblatt ist so filigran wie der Fühler eines Insekts. Es ist jedoch Vorsicht geboten, da die Rhizome – die Stengel der Farne – über Widerhaken verfügen, die es ihnen ermöglichen, sich an Oberflächen festzukrallen. Diese Haken sind wie winzige Dornen, man kann sich an ihnen eine blutende Wunde holen, was mir oft genug passiert ist, wenn ich als Jugendlicher für meine Mutter die Blumen gießen musste. Ich wusste mit sensiblen, zugleich widerspenstigen Verästelungen – ob bei Pflanzen oder Menschen – noch wenig anzufangen. Nicht anders als meine Mutter habe ich eine Vorliebe für großzügig in den Raum wuchernde Pflanzen, wie etwa Zimmerlinden oder Engelstrompeten. Engelstrompeten sind Nachtschattengewächse. Sie stammen aus Südamerika und kommen sowohl im Andenraum als auch im Amazonasbecken vor und können bis zu fünf Meter groß werden. Leider liegt die Wohnung meiner Mutter nicht in einem
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