Das fuenfunddreißigste Jahr
murmelt Namen, die ich nicht verstehe, und da ich im Gegensatz zu Carstens Behauptung auch nicht daran interessiert bin, frage ich auch nicht nach. Eine Figur ist etwas größer als die anderen, sie ist schwarz gekleidet, und die Konturen des Gesichts und der Kleidung sind mit sparsamen weißen und silbernen Strichen gemalt. Sicher der große Bösewicht.
»Wer ist das?«, frage ich pflichtschuldig, als Lucas mich erwartungsvoll anschaut.
»Das ist Mel…o…« Er ist unsicher und starrt seinen Vater an, der mit dem Mund die Buchstaben formt, ohne sie laut auszusprechen. Ob Carsten das Buch von Tolkien gelesen hat, als er jung war, oder sich erst jetzt um Lucas willen damit beschäftigt? »Melkor«, sagt Lucas schließlich mit leuchtenden Augen, er freut sich sichtlich darüber, dass ihm der Name mit einem Mal wie selbstverständlich über die Lippen geht.
»Ist er mächtig?«
»Sehr mächtig. Aber auch sehr böse.«
»Der gefällt mir. Kann ich ihn dir abkaufen?«
Lucas schaut verblüfft, überlegt dann kurz. »Wie viel gibst du mir?«
»Wie viel willst du denn dafür haben?«
»Viertausend Euro«, sagt das Kind mit jener Sicherheit, mit der es den ganzen Abend über schon auftritt.
»Das ist mir zu viel.«
»Viertausend Euro!«, beharrt der Junge und wird dabei wieder ähnlich laut wie vorhin, als er seinen Ball wiederhaben wollte. Carsten lacht, er kennt das offenbar schon. Der Junge fühlt sich durch das Lachen bestärkt und macht mir noch einmal klar, was Sache ist. »Viertausend Euro!« Seine Wangen sind rosig, sein klarer Blick eine Herausforderung an die Welt, und ich schäme mich nicht, es zu sagen: Ich beneide ihn ein wenig um diese naive Zuversicht und die Kraft, die sie verleihen kann.
Wo endet, wenn sie unerbittlich weiterverfolgt wird, diese Anstrengung der Entblößung, die das Künstliche ausscheidet, um das Authentische zu entdecken?
Montaigne, Essais I, xxiii
Zwiegespräch
»Du wirst doch diese Frau nicht treffen, oder?«
Die Stimme meiner Mutter klingt sachlich. Am Anfang und am Ende eines Satzes jedoch franst sie aus. Sie kommt schwer in Gang, schält sich mühsam heraus aus ihrem Unwillen, überhaupt etwas zu sagen. Das Haus zu verlassen, das sie sich eingerichtet hat. Es ist ein gewissermaßen inwendiges Haus, das nicht aus Holz oder Ziegelsteinen besteht, sondern aus Urteilen, die sie sich über dieses oder jenes gemacht hat. In ihm fühlt sie sich sicher wie ein anderer Mensch in einem Gebäude aus Stein.
»Das bringt doch nichts. Dir nicht, und ihr auch nicht.«
Es ist vierzehn Uhr. Vereinzelte, in die Länge gezogene Vokale und ein theatralisches Näseln lassen mich vermuten, dass meine Mutter bereits das zweite Glas Prosecco getrunken oder sich gegönnt hat, wie sie es nennt. So seltsam das klingt: Die Tatsache, dass es sich dabei um eine – wie ich weiß – billige Marke handelt, die sie im fünfzehn Minuten entfernten Supermarkt kauft, macht es für mich schlimmer. Wenn sie ihren Kummer mit etwas ertränken würde, das schmeckt, das dem Gaumen, ja vielleicht sogar dem diffusen Etwas namens Seele wohltut, könnte ich der Sache etwas Positives abgewinnen. Stattdessen spült sie ihn mit etwas Süßlichem hinunter, das schon ein wenig abgestanden schmeckt, sobald sie die Flasche entkorkt und sich ein Glas davon eingeschenkt hat. Wenn sie mir etwas davon anbietet oder sich selbst davon nachgießt, verziehe ich unwillkürlich den Mund. Es ist noch nicht lange her, dass ich selbst versucht habe, meine Probleme mit Alkohol hinunterzuspülen. Selbstverständlich ist es mir nicht gelungen, höchstens vorübergehend, für die Dauer von ein paar Stunden. Probleme stellen eine zähe Materie dar, die sich nicht in Alkohol auflösen lässt. Die Beigabe von Alkohol erzeugt vielmehr neue Probleme, ohne dass die alten damit aus der Welt geschafft wären.
Solche Überlegungen gehen im Fall meiner Mutter jedoch zu weit. Sie ist Ende fünfzig und gewiss nicht auf dem Weg zur Alkoholikerin. Sie ist lediglich vereinsamt. Der eine oder andere Prosecco sowie eine bestimmte Anzahl an Zigaretten pro Tag – mal eine halbe, mal eine ganze Schachtel – umspülen diese Einsamkeit wie Wasser einen Stein. Es ist keine stolze Einsamkeit, aber auch keine tragische. Sie ist weder selbstgewollt noch von einem übelmeinenden Schicksal eingefädelt. Sie ist ihr einfach passiert, was vielleicht unangenehmer ist, weil die Banalität des Vorgangs, der sich auf abertausende andere Menschen ihres Alters
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