Das fuenfunddreißigste Jahr
Alt-, sondern in einem Neubau, was ihrem natürlichen Wachstum eine bautechnische Grenze setzt. Ich habe mich nie sonderlich für Pflanzen interessiert – das hat sich mit den Engelstrompeten geändert. Wenn man nicht ab und zu überrascht ihr Wachstum zur Kenntnis nimmt, haben manche Pflanzen etwas seltsam Lebloses an sich, etwa all die entweder stämmigen oder aber verkümmerten Gummibäume, die in Büros ihr Dasein fristen. Wenn ich an sie denke, denke ich an Lebensläufe, die sich in Akten verwandelt haben. Der Blütenkelch der Engelstrompete mit seiner bis zu 45 Zentimeter großen Krone sowie die in zartesten Nuancen von Rot gefärbten weißen Blütenblätter hingegen haben für mich beinah etwas Erotisches, das mit hoher Finesse zur Schau gestellt wird, einer Frau nicht unähnlich, deren Nacktheit in schimmernde Dessous gehüllt ist, die die entscheidenden Stellen verbergen, ohne irgendwelche Fragen offenzulassen. (Ein Vergleich, der insofern hinkt, als die Staub- und Fruchtblätter – gewissermaßen die Fortpflanzungsorgane der Engelstrompeten – sowohl den Insekten als auch dem menschlichen Blick schutzlos preisgegeben sind.)
Dass ich mich mit den Pflanzen beschäftigte, hatte einen Nebeneffekt: Wir – meine Mutter und ich – konnten uns einer Sache widmen, ohne dass wir uns in die Haare gerieten. Ich erkannte die Autorität meiner Mutter in botanischen Fragen uneingeschränkt an, während ich sonst nur selten einer Meinung mit ihr war. Schmunzelnd machte sie mich auf das erzieherische Potenzial aufmerksam, das den Engelstrompeten innewohnt. Ihres Wissens nach nutzten einige Indianerstämme die Wirkung der Inhaltsstoffe der Pflanzen, um ungezogene Kinder ruhigzustellen. Andere wiederum glaubten, die Vorfahren würden während des Rauschzustandes zu den Kindern sprechen, um diese zu ermahnen. Es wäre daher eine höhere Fügung, dass ausgerechnet ich mich den Pflanzen zuwandte. Ich hielt es da lieber mit den Rauschzuständen selbst, immerhin ist das Nachtschattengewächs eine Verwandte des Stechapfels. Ich erinnere mich, dass meine Mutter und ich bei diesen unernsten Erörterungen auf dem Balkon standen, es war Hochsommer, wir lachten. Das Licht war ein Ball, den uns die Sonne zuwarf, auf dass wir miteinander spielten.
»Wenn ich du wäre …«
Dann wäre die Welt eine andere.
Meine Mutter ist ja noch nicht einmal sie selbst. Es heißt, alles im Leben verändert sich. Ein Blick in den Spiegel und ein darauf folgender Blick ins Fotoalbum genügen, um die Gültigkeit dieses Satzes an sich selbst überprüfen zu können. Es macht jedoch einen Unterschied, ob man sich in einer Weise verändert, die auf der Person, die man einmal war, aufbaut – als entwickelte man sich in aufeinander bezogenen Schichten und prägte wie ein Baum einen Jahresring nach dem anderen aus. Oder ob man im Laufe der Jahre gleichsam auf sich selbst vergisst und den, der man einmal war, nicht einmal mehr wie einen Fremden behandelt, einen kurzzeitigen Mitbewohner der eigenen Geschichte, sondern überhaupt keinen Umgang mehr mit ihm hat, weil man sich seiner nicht mehr erinnert.
Die Gebräuche der heutigen Jugend lassen meine Mutter den Kopf schütteln. Sie echauffiert sich über die Nasen- und Nabelpiercings. Die Tattoos. Die Hosen, die weniger auf der Hüfte als am Hintern Halt finden und bei den verschiedensten Verrenkungen den Blick auf hervorquellende Arschbacken freigeben. Über den sich wie ein Kreisel ums eigene Ich drehenden Sound von Nirvana ebenso wie über den betonblockhaften – Arsch! Schlampe! Opfer! – Sprechgesang des Hiphop. Über die Allgegenwart von MP3-Playern im öffentlichen Raum, gleichgültig, ob die Musik über die Kopfhörer zu ihr vordringt oder nicht. Und natürlich über die Tatsache, dass Mädchen heutzutage genauso herumgrölen und sich sinnlos besaufen wie Jungs.
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Menschen ihres Alters sich derart über die Jugend auslassen. Bei manchen von ihnen erscheint mir das nur folgerichtig, da ich bei ihnen ohnehin das Gefühl habe, dass die Jugend in ihrem Lebensstrom nur ein verletztes Tier war, das eine Zeitlang in den Fluten nach Halt suchte, um schließlich darin zu ertrinken. Vielleicht ist das bei meiner Mutter nicht anders. Im Unterschied zu diesen Menschen war die Jugend meiner Mutter jedoch keine unbeholfene Variante von Erwachsensein, bei der der eine oder andere heftige Pegelausschlag nur zur Verschleierung der Gleichförmigkeit und Angepasstheit des Ganzen
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