Das fuenfunddreißigste Jahr
er hätte sich die Nächte in Clubs um die Ohren geschlagen, obwohl er sich lieber von den symphonischen Bergmassiven Anton Bruckners emporheben ließ.
Manchmal ist die Liebe grausam, wenn sie zwei Menschen zusammenführt, die verzweifelt zueinander gehören und dabei nicht einsehen wollen, dass sie nun mal nicht zueinanderpassen. Noch grausamer aber ist jener Fall, in dem einer der beiden sehr wohl darüber Bescheid weiß, jedoch aus Berechnung, Gleichgültigkeit oder Bequemlichkeit beschließt, im Vertrauen auf das Ende den Dingen ihren Lauf zu lassen.
Ich wandte mich in Gedanken wieder Sonja zu. Sie arbeitete als Physiotherapeutin. Es war irgendwie unangenehm, sich all die nackten Männerrücken, -schenkel und -waden vorzustellen, die sie mit ihren kundigen Händen massierte. Selbst die langsam kreisenden Bewegungen des Ultraschallgeräts, dessen glänzende Oberfläche mithilfe eines kühlen Gels über die Wölbungen der Muskeln und Knochen glitt, bekamen für mich in diesem Zusammenhang etwas unangenehm Erotisches. Ich wusste, dass der Grund für diese lächerliche Sichtweise in der Angst wurzelte, Sonja könnte bei der Ausübung ihrer Tätigkeit jemanden kennenlernen und wieder aus meinem Leben verschwinden – ein Schreckgespenst, das ich in den Griff bekommen musste, damit meine Angst nicht zu einer fixen Vorstellung wurde, im Zuge derer ich penibel jeden realen oder eingebildeten Vorfall registrierte, von dem eine Gefahr in diese Richtung ausgehen konnte. Ich schüttelte den Kopf über mich und hätte mir eher die Zunge abgebissen, bevor ich in dieser Richtung etwas zu ihr gesagt hätte. Mir war bewusst, wie unattraktiv unsouveräne Männer auf Frauen wirkten. In Micha hatte ich ein abschreckendes Beispiel dafür vor Augen. Also unterließ ich es, Sonja ohne Grund hinterherzutelefonieren oder ihr zu viele, scheinbar beiläufige SMS zu schicken.
Es klingelte. Steffen ließ es sich nicht nehmen, seinen Gästen selbst die Tür zu öffnen und sie zu begrüßen. Ich bedeutete ihm, dass er sitzen bleiben konnte. Er lächelte verschwörerisch. Durch den Spion an der Tür sah ich, dass niemand davorstand. Ich griff zum Hörer der Gegensprechanlage und erkannte Sonjas Stimme. Ich ging ins Treppenhaus und horchte auf ihre Schritte. Sie klangen gedämpft, die graugestrichene Holztreppe war vom Erdgeschoß bis in den vierten Stock, in dem Steffens Wohnung lag, mit einem dunkelblauen Läufer bezogen. Wenn man in die Wohnung kam, war die Küche der erste Raum links. Ich hörte, wie Alex nach mir fragte. »Der gibt das Empfangskomitee.« Ulrike sagte es in einem Ton, als ob es sich dabei um etwas Bedauernswertes handelte.
Ich blickte durch den Spalt, der durch die Windung des Treppengeländers geschaffen wurde, nach unten. Sonja schaute im selben Moment nach oben und winkte mir zu. Ihr Gesicht war für mich wie ein Gebäude, bei dem ein Blick in jeden Winkel lohnt und in das ich nur allzu gerne eingezogen wäre. Wie sehr ich in sie verliebt war, wurde mir nicht zuletzt dadurch klar, wie wenig ich mich mit einem Mal an jenen Kleinigkeiten stieß, die mir ansonsten unverhältnismäßig auf die Nerven gingen – etwa wenn Frauen nach dem Aufstehen allzu viel redeten. Einmal landete eine Fliege auf meinem linken Arm, während wir miteinander schliefen. Ich hatte mich mit den Armen auf der Unterseite von Sonjas Oberschenkeln abgestützt, ihre Unterschenkel ruhten auf meinen Schultern. Die Fliege kroch über meinen Arm. Normalerweise hätte mich die Vorstellung, wie sie mir mit ihrem Rüssel den Schweiß von der Haut tupfte, wahnsinnig gemacht. Diesmal nahm ich die nestelnden Bewegungen der Fliege auf mir wahr, ohne dass es mir etwas ausmachte und ich nicht einmal versuchte, sie durch eine rasche Bewegung meines Arms oder meines Kopfs abzuschütteln.
Als sie vor mir stand, musste ich mich beherrschen, sie nicht zu küssen, als ob wir uns vierzehn Tage nicht gesehen hätten – es war gerade einmal zwölf Stunden her, dass sie aufgestanden war und sich geduscht hatte, während ich das Frühstück machte.
Sonja hatte Rotwein mitgebracht. »Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte Steffen. Als ich sie den anderen vorstellte, versuchte ich ihnen nicht in die Augen zu sehen. Nicht, dass mir Sonja peinlich war, im Gegenteil. Ich hätte sie nur lieber vor der Welt versteckt als herumgezeigt.
Sonja wandte sich an Steffen. »Hast du eine Bong? Ich mag den Tabakrauch nicht.«
Steffen verließ kurz den Raum und kam mit einer
Weitere Kostenlose Bücher