Das fuenfunddreißigste Jahr
die volle Flasche Bier, die vor ihm auf dem Tisch stand.
»Jeder, wie es ihm gefällt«, sagte Steffen und reichte mir eine Tasse Tee.
Ich wollte weder Tee noch Bier.
Die Eisblumen, die sich im Winter an den Fenstern meiner schlecht isolierten Wohnung bildeten, hatten inzwischen vielleicht mehr mit mir zu tun als diese Menschen, die sich mit Fug und Recht als meine Freunde bezeichnen konnten. Wieder einmal schwor ich mir, dass dieses Treffen das letzte dieser Art war.
Wir hatten dieselben Seminare besucht, in denselben WGs gewohnt, manchmal sogar mit denselben Frauen geschlafen. Im Gegensatz zu vielen anderen Kommilitonen hatten wir nach dem Studium die Stadt nicht verlassen, sondern waren höchstens in einen anderen Bezirk gezogen. Das galt vor allem für jene, die eine feste Beziehung eingegangen waren oder einen guten Job gefunden hatten – wobei das eine mit dem anderen nicht selten Hand in Hand ging.
Wir trafen uns lose in Steffens Wohnung. Ab und zu gab es neue Gesichter, die jedoch zumeist wieder verschwanden. Wer blieb, waren wir. Das Kiffen, das ursprünglich einfach dazugehörte, stellte inzwischen – nicht anders als der Fernseher in manchen Familien – Anlass und Motor unserer Zusammenkünfte dar. Dass unsere Gespräche versandeten und jeder Versuch, Gehalt und Gefühl ins Spiel zu bringen, in der Banalität des organisierten Rausches unterging, lag aber nicht nur am Kiffen selbst. Wir hatten uns einfach nichts mehr zu sagen. Unsere vermeintliche Freundschaft lastete auf uns. Wahrscheinlich war sie nicht mehr gewesen als eine Spaßgemeinschaft in einer Zeit der Schwebe, in der es möglich war, mit Menschen umzugehen, wie man sonst mit Geschichten umging: gleichnishaft und nur dann aufs eigene Leben bezogen, wenn es einem in den Kram passte. Der Ramsch an Begebenheiten, die wir hervorkramten, als handelte es sich um Reliquien, waren unserer eigenen Legende nach das Produkt unserer Einzigartigkeit, die sich vermutlich nur unwesentlich von zahllosen Fällen ähnlicher Einzigartigkeit unterschied. Wir hätten das alles über Bord werfen und – nicht anders als Liebespaare von Zeit zu Zeit – einander fremd werden müssen, um uns wieder füreinander zu interessieren. Um als Freunde eine Zukunft zu haben. Aber von einer solchen Zugewandtheit konnte keine Rede sein. Das Wiedersehen in Steffens Wohnung geriet stattdessen zu einem Hickhack, von dem schließlich jeder durch Kiffen erlöst zu werden hoffte.
»Na, wo bist du gerade?«
Ich zuckte zusammen. Ich befand mich in Steffens Schlafzimmer und blickte zum geschlossenen Fenster hinaus auf den Hinterhof, auf dem immer noch die kaputte Waschmaschine stand. Ein Schreiben der Hausverwaltung, das den Besitzer aufforderte, sie ordnungsgemäß zu entsorgen, war vor mehr als zwei Monaten auf dem schwarzen Brett im Erdgeschoß angebracht worden.
»Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagte Ulrike, obwohl ihrem Gesicht anzusehen war, dass sie meine Reaktion amüsierte.
»Ich war in Gedanken«, sagte ich und wusste dabei sogleich, was sie darauf erwidern würde.
»Na ja, das kennen wir ja von dir.«
Sie bot mir ihren Blick wie eine Erfrischung an. Wie viel Mühe sie diese Freundlichkeit wohl kostete? Aber vielleicht fiel sie ihr sogar leicht. Ich sah ihr in die Augen, als würde ich gerade Auto fahren und am Rand meines Gesichtsfelds die Landschaft vorüberziehen sehen. Sie legte mir meine Beiläufigkeit gewiss als Geringschätzung aus. Ihr Lächeln, ihre Frisur, ihre Schminke: Auch wenn ich mir nichts mehr daraus machte, erwartete sie zumindest Anerkennung für den Anblick, den sie bot. Das hatte nur am Rande mit mir zu tun. Es gehört vielmehr zum Repertoire einer jeden Frau, die durch eine Abendveranstaltung treibt und darauf besteht, kein Partygeröll zu sein, kein benutzerfreundlicher Bestandteil des Afterwork, und die sich vor einen Mann hinsetzt, als befände sich zwischen ihr und ihm der Abgrund eines Schaufensters: Und was machst du so? Bist du Partybusiness as usual oder tränkst du dich mit meinem Parfüm? Spürst du das Rot auf meinen Lippen, witterst das Muttermal an meinem Bauchnabel? Magst du aus dem Calvin-Klein -Anzug deiner Biografie schlüpfen und unbenutzt sein für mich? Mich in Villeroy & Boch rahmen lassen? Du musst wissen, das alles ist keine Kleinigkeit, keine Frau will nur ein Zeitvertreib sein, also tu gefälligst was! Wenn du schon nicht der Richtige bist, dann lass dich wenigstens dazu machen! Ich hoffe, du verstehst das. Man
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