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Das fuenfunddreißigste Jahr

Titel: Das fuenfunddreißigste Jahr Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Truschner
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muss die Augen offen halten als Frau, das Profil schärfen, natürlich ohne dabei zu verkrampfen, Bedürftigkeit ist die Hölle! Als hätte dich ein Stinktier markiert!
    Ich hatte am eigenen Leib erfahren, wie bedürftig Ulrike sein konnte – nach Aufmerksamkeit, nach Begehrtwerden. Was nicht gegen sie sprach, denn wer war das nicht? Es hatte mich dennoch überrascht, da sie nach außen sehr unabhängig wirkte. Es war nicht der einzige Widerspruch an ihr. Sie wollte geliebt werden, brachte jedoch selbst den Satz »Ich liebe dich« nicht über die Lippen. Während es ihr vor zweihundert Zuhörern im Hörsaal gelang, ein langes Referat in freier Rede zu halten, verlor sie in einem Gespräch unter vier Augen leicht den Faden, spielte fahrig mit einzelnen Haarsträhnen, kaute an einem Nagel.
    »Heute lernen wir sie also endlich kennen«, sagte sie und spielte damit auf den Grund dafür an, dass mich ihr Aussehen kaltließ, ja dass mich im Augenblick alles – Menschen, Bücher, Filme, das politische Tagesgeschehen – kaltließ: Sonja. Es war nicht einmal zwei Wochen her, dass ich sie in einer Theaterpause angesprochen hatte. Ich wusste wenig von ihr, sie machte um sich nicht viele Worte. Sie hatte grüne Augen und volle Lippen. Sie liebte ihren Beruf, ihre Katze und das Theater. Sie besuchte zweimal pro Woche einen Schauspielkurs. Zum ersten Mal war ich derjenige, der sich öfter meldete und darum bemüht war, Nähe herzustellen.
    »Lasst euch nicht stören.«
    Ulrike war nicht allein gekommen, sondern hatte Micha mitgebracht, der nun im Zimmer stand. Er war in Ulrike verliebt, für sie war er jedoch selbstverständlich und verfügbar wie ein Schlüssel an ihrem Bund, was sie je nach Laune mit Liebenswürdigkeit oder Sarkasmus quittierte. (Einmal hatte sie ihn in seiner Abwesenheit als ihren »Waldi« bezeichnet.) Ihre Anwesenheit machte seine Hände feucht und verschob den Sitz seiner Stimme in höhere Lagen. Gleichzeitig war er begeisterungsfähig und interessiert, sodass er unfreiwillig einen hervorragenden Vertreter jener Männer gab, die sich manche Frauen als liebe Kumpel hielten, die nie oder zumeist nur dann zum Zug kamen, wenn nichts Richtiges greifbar war. Eine Konstellation, die in Michas Fall allen ins Auge stach außer Micha selbst, der in Bezug auf Ulrike Scheuklappen bevorzugte. Ich war davon überzeugt, dass die beiden noch nicht miteinander geschlafen hatten und dass sie ihm Wangenküsse und Umarmungen als Versprechen hinwarf.
    Mein Blick fiel auf sein kariertes Hemd, seine Slipper und seine Bundfaltenhose, und ich konnte es mir nicht verkneifen, ihn zu triezen.
    »Wieso solltest du stören?« Ich machte einen Schritt auf Ulrike zu und berührte ihre Schulter mit meiner Hand. »Oder stört er?«
    Ulrike sagte nichts.
    Micha sah an mir vorbei. »Steffen hat super Kraut. Nepalesisches Chira.«
    Ich wusste, dass er sich nichts aus Shit machte, dass er es sogar ablehnte, weil er sich vor der Gewöhnung daran und dem daraus resultierenden, möglichen Verlangen nach härteren Drogen fürchtete. Im Augenblick verhielt er sich jedoch so, als gehörte der Umgang damit so selbstverständlich zu seinem Alltag wie die U-Bahn-Fahrt zum Amt, wo er als stellvertretender Referatsleiter dafür sorgte, dass die Interessen der Konsumenten berücksichtigt wurden.
    »Du machst dir doch gar nichts aus dem Zeug«, sagte ich.
    Er hätte alles getan, um Ulrike nahe zu sein, nicht nur in körperlicher, sondern auch in geistiger Hinsicht. Die Verbindung von Nützlichkeit und Seelenverwandtschaft ergab jenen Baustoff, aus dem Männer wie Micha gemacht waren – ein Material, das eher auf ein Dach über dem Kopf hinwies als auf ein nächtliches Treiben unter freiem Himmel. An sich kein Problem, wenn Ulrike eine Frau gewesen wäre, die auf lange Sicht eine Unterkunft gesucht hätte. So aber hatte sie gerade einen enttäuschenden Beziehungsversuch hinter sich und behandelte Männer, als wäre sie durch einen Zaun von ihnen getrennt, der Kontakt zwar zuließ, wirkliche Vereinigung jedoch unmöglich machte. Gleichzeitig hatte sie beschlossen, dass sie lange genug Rücksicht genommen hatte und es nun ihr gutes Recht war, sich schadlos zu halten und egoistisch zu sein.
    Hätte sie gerne Beachvolleyball gespielt, hätte Micha sich seiner Unsportlichkeit zum Trotz den schwindelähnlichen Zuständen ausgesetzt, die das Hechten nach dem Ball bei hochsommerlichen Temperaturen mit sich bringen konnte. Hätte sie ein Faible für Jazz gehabt,

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