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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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der Erste, der sprach.
    »Docherty! Steh auf, du Pisser!«
    Im Physikunterricht hatte man uns zwar erzählt, dass die Geschwindigkeit fallender Körper irgendwie mit Masse, Zeit und Gravität zusammenhing, mit ungebremsten Kräf ten und unbeweglichen Objekten. Aber der Einzige hier, der zugehört haben dürfte und einem die entsprechende Gleichung hätte erklären können, sagte nichts mehr. Er würde nie mehr etwas sagen.
    Aus seinem Ohr ergoss sich ein einzelnes Rinnsal – schwarz und dickflüssig wie Melasse. Mund und Augen waren geöffnet. Der Mund sah aus, als wollte er das Wörtchen »Nein« formen, die Augen starrten nur ausdruckslos in den leeren, blauen Himmel.
    Es war Banny, der das Kommando übernahm.
    Niemand hatte etwas gesehen.
    Unser Wort war genauso viel wert wie das jedes Arschlochs, das es wagen würde, das Gegenteil zu behaupten.
    Er wies uns an, Steine zu sammeln und sie in Dochertys Taschen zu stecken.
    Wir rollten ihn an die Kante des Wehrs und stießen ihn ins Wasser. Ich versuchte, ihn nicht anzusehen. Mit dem Gesicht nach unten trieb er knapp unter der Oberfläche davon, nur in seinem Parka fing sich etwas Luft und hob den grünen Stoff ein winziges Stück aus dem Wasser.
    Den Rest des Wochenendes regierte die Panik. Ich verkroch mich und versuchte, möglichst nicht aufzufallen. Ich weiß noch, dass mir andauernd übel war, dass ich meinen Eltern aus dem Weg ging, die meiste Zeit in meinem Zimmer verbrachte und dass meine Mum mich zum Essen immer rufen musste. Diese erdrückende Angst, die sich mir auf den Magen legte, während ich beim gemeinsamen Abendessen vor dem Fernseher Hackfleisch, Kartoffeln und Baked Beans auf dem Teller herumschob, unfähig hinzusehen, als mein Dad seine Portion zu einem rosa-grauen Brei zusammenmatschte. Bevor er nach den Fußballergebnissen zu seiner Lieblings-Gameshow umschaltete, sah er noch ein paar Minuten der Lokalnachrichten, und ich fragte mich schon, ob nun alles auffliegen würde. Aber es lief bloß ein Bericht über den Besuch des Papstes. Danach einer über geplante Stellenkürzungen im Stahlwerk. Gefolgt vom Wetter. Das Zischen, als mein Vater die nächste Bierdose öffnete, ließ mich zusammenzucken. Meine Mom fragte mich, ob alles in Ordnung sei. »Mir ist ein bisschen schlecht«, antwortete ich. Ich erzählte ihr, ich hätte zu viel Ginger Ale getrunken.
    Am Montag berichteten die Fernsehnachrichten als Allererstes von dem vermissten Jungen. Craig Docherty, dreizehn Jahre alt, aus Ardgirvan, Ayrshire. Zuletzt gesehen am Samstagmorgen beim Angeln am Irvine, in der Nähe der Eisenbahnbrücke. Dochertys Eltern baten die Bevölkerung um Hilfe und Informationen. In der Schule war es das Gesprächsthema Nummer eins, die Gerüchte schossen ins Kraut, sogar von Pädophilie war die Rede.
    Dienstags stand es dann in der Zeitung. In weißem Hemd, Krawatte und Blazer lächelte Docherty mich vom Titelblatt des Daily Record an. Es war sein Schulfoto.
    Am nächsten Tag rückte der Alte, der seinen Hund spazieren geführt hatte, mit der Beschreibung »dreier Jugendlicher« raus, die er am Samstagmorgen am Wehr gesehen hatte. Sie seien »laut und unflätig« gewesen.
    Sie fanden den Leichnam am Donnerstagmorgen. Die Strömung hatte ihn fast eine Meile weit fortgetrieben, bis in Sichtweite der Flussmündung, wo der Irvine sich in die Irische See ergießt. Dort war er ans Ufer gespült worden und hatte sich in den Wurzeln eines Baumes verfangen. Ein Golfer, der hinter dem sechsten Green in Ufernähe seinen Ball suchte, hatte etwas entdeckt, das er zunächst für eine im Wasser treibende grüne Jacke hielt. Aufgrund der »grausamen Natur« seiner Verletzungen, wie die Polizei es bezeichnete, handelte es sich nun um einen Mordfall. Die Kripo appellierte an die drei Jungen vom Wehr, sich zu melden. Wie wir später erfuhren, fragte Tommy an diesem Abend seine große Schwester: »Wenn einer stirbt, obwohl man ihn gar nich’ töten wollte, muss man dann trotzdem ins Gefängnis?« Sie erzählte es ihren Eltern. Tommy kam am Freitag nicht zur Schule.
    Banny und mich holten sie in der zweiten Stunde aus dem Chemieunterricht. Ich weiß noch, dass wir alle um einen Bunsenbrenner herumstanden und Schutzbrillen trugen. Dann klopfte es an der Tür. Mr. Staples blickte von seinem Experiment auf, als Mr. McMahon, der Direktor, in den Klassenraum trat. Er wirkte erschüttert. Hinter ihm ragten zwei schwarze Gestalten auf, und alles schien in Zeitlupe abzulaufen, als sie auf uns

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