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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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saß. Ihr blondes Haar, ihre vollen Lippen. Ich weiß noch, dass sie mir sehr alt erschien, andererseits konnte sie kaum älter als vier- oder fünfunddreißig gewesen sein. Sie verfolgte alles ganz genau, machte sich Notizen auf einem DIN-A4-Block, ihr Blick wanderte von uns zum Richter und dann zu dem jeweiligen Anwalt, der gerade sprach. Sie weinte nicht, aber manchmal schlug sie die Hände vors Gesicht, wenn besonders grausame Details verlesen wurden. (»Risse im Analbereich, unzählige Fleischwunden, massives Schädel-Hirn-Trauma, fortgeschrittene Verwesung des Körpers nach fünf Tagen im Wasser.«)
    Damals war man in Schottland mit zwölf Jahren strafmündig, weshalb wir als Erwachsene abgeurteilt wurden. Banny erhielt für Mord aus niederen Beweggründen eine lebenslängliche Freiheitsstrafe, was mindestens fünfzehn Jahre bedeutete. Tommy und ich wurden des Mordes mit bedingtem Vorsatz für schuldig befunden und erhielten jeder sieben Jahre, was die Presse dazu veranlasste, ein zu mildes Strafmaß zu beklagen. Auf eine persönliche Intervention des Innenministers hin wurde gerichtlich verfügt, dass wir die volle Strafzeit verbüßen mussten, und zwar ohne Chance auf vorzeitige Entlassung. Was bedeutete, dass wir bis zum Erreichen des achtzehnten Lebensjahres in Jugendstrafanstalten untergebracht wurden, um dann die verbleibende Zeit in regulären Gefängnissen abzusitzen. Danach sollten wir mit neuen Identitäten in die Obhut eines Bewährungshelfers entlassen werden.
    Anfangs wurden wir zu unserer eigenen Sicherheit ständig verlegt. Ich war in den ersten zwei Jahren in drei verschiedenen Anstalten in Zentralschottland. Jedes Mal war der Transporter bei meiner Ankunft von einem schreienden Mob umlagert. Oftmals hielt Mr. Cardew meine Hand. Eine Decke über meinem Kopf schützte mich vor dem Blitzlichtgewitter der Presse.
    Tommy überlebte es nicht. Er wurde mit siebzehn Jahren bei einer Messerstecherei in einem Jugendknast umgebracht.
    Bannys Strafe wurde wegen wiederholter Gewalttätigkeiten um drei Jahre verlängert. Im Alter von zweiundzwanzig Jahren entließ man ihn im Jahr 2000 schließlich auf Bewährung. Er wurde beinahe sofort wieder straffällig, vergewaltigte ein vierzehnjähriges Mädchen und sitzt heute noch im Gefängnis.
    Ich hatte mehr Glück. Dank Mr. Cardew, Steinbecks Von Mäusen und Menschen , Willis Halls Drama Das Ende vom Lied (die Art, wie der sterbende Junge »Mutter« sagt, ging mir immer seltsam nahe) und Ted Hughes’ Gedicht Der Jaguar – Mr. Cardew erklärte mir, wie die Zeile »Überm Käfigboden wachsen Horizonte auf« meine Situation reflektierte. Und dank Shakespeare, bei dessen Lektüre ich weinend und zitternd in Mr. Cardews Armen lag, den Tabakgeruch seines Jacketts in der Nase. Dann waren da noch Orwell und Larkin. Ich lernte Schach spielen. Mr. Cardew wurde mit der Zeit zu Paul, während ich mich in Donald Miller verwandelte. Als ich achtzehn wurde, fühlte sich der dreizehnjährige William Anderson schon wie eine halb vergessene Erinnerung an. Wie ein entfernter Verwandter, ein Cousin zweiten Grades. Jemand, dessen Knochenbau ein ferner Widerhall des meinen war, dessen Blut dem meinen vage glich, den ich aber kaum kannte, mit dem ich keine gemeinsame Vergangenheit hatte und für den ich nicht verantwortlich war. Was mich bis zu einem gewissen Grad vermutlich kaum von anderen Teenagern unterschied. Ich bekam eine fingierte Vorgeschichte, eine sogenannte Legende: Meine Eltern waren gestorben, als ich noch sehr jung war. Deshalb wurde ich von einem älteren Onkel großgezogen, der aber verschied, als ich achtzehn Jahre alt war. In meiner Vorstellung verschmolz dieser Onkel irgendwann mit Mr. Cardew.
    Ich packte das, was wir getan hatten, was ich getan hatte, in eine Kiste und begrub sie in den tiefsten Tiefen meines Bewusstseins.
    1989 wurde ich entlassen und schrieb mich im Oktober desselben Jahres an der Universität von Wales als Donald Angus Miller ein. Ein erwachsener Student an einer der kleinsten, entlegensten Universitäten in ganz Großbritannien.
    Zudem griff mir die Natur unter die Arme: Die aktuellsten öffentlich verfügbaren Fotos von mir waren aufgenommen worden, als ich dreizehn war – mit zwanzig hatte ich so gut wie keine Ähnlichkeit mehr mit der Person auf den Bildern. In den ersten Semestern trug ich einen dichten, nicht gerade modischen Bart. Die Regierung zahlte mir eine kleine Unterstützung und behielt mich aus der Distanz im Auge. Meine

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