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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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seelische Sanierung, die im Gefängnis mit Büchern begonnen hatte, wurde auf der Universität mit Leben unterfüttert. Zum ersten Mal lernte ich Engländer kennen – Menschen, die wir früher als »etepetete« oder »hochnäsig« bezeichnet hatten –, und ich bewunderte, wie leicht sie alles nahmen. Die Art, wie sie lachten, wenn sie beiläufig die Hand hoben, um einen Kellner an den Tisch zu rufen. Ich hatte noch nie Wein getrunken, nicht einmal eine Weinflasche zu Gesicht bekommen, bis ich mit zwanzig an der Kunst-Fakultät in Lampeter zu einer Käse- und Weinverkostung eingeladen war. Es gab einen dickflüssigen, rostfarbenen Roten aus Bulgarien, serviert in Plastikbechern. Die Brie- und Jarlsberg-Ecken trockneten auf ihren Tellern unter den Neonröhren des Hörsaals unberührt vor sich hin.
    Die Uni in Lampeter wurde auch von Sprösslingen des höheren Mittelstandes besucht, Söhne und Töchter wohlhabender Londoner oder einheimischer Familien, denen selbst die besten öffentlichen Schulen nicht zu einem Ticket nach Oxford, Bristol oder St. Andrews hatten verhelfen können. Etwas später im selben Jahr besuchte ich meine erste Dinnerparty. Zwei Mädchen – Hilary und All y ? – hatten in ihre Studentenbude abseits des Campus eingeladen. Den Esstisch hatten sie im Flur aufgebaut. Darauf flackerten Kerzen, und es lief klassische Musik – das Ganze war eine eher scherzhafte, ironische Übung in erwachsener Kultiviertheit. Ich weiß noch, wie eine der beiden mit den Worten »Et voilà!« einen schweren, orangefarbenen Topf mit Ratatouille auf den Tisch stellte. Ich hatte so etwas noch nie zuvor gegessen. Unter den Tomaten und Paprikaschoten fischte ich etwas heraus und kaute darauf herum. Wenig später zupfte ich mit hochrotem Kopf Schnüre und Fäden aus meinen Zahnzwischenräumen. Ally – oder Hilly – erklärte mir daraufhin, was ein Bouquet garni sei.
    Später am Abend, auf dem geschmacklosen Sofa, beichtete ich Hilly – oder Ally –, dass sie die ersten reichen Leute waren, die ich jemals kennengelernt hatte. Sie lachte und erklärte mir unter erheblichen Mühen den Unterschied zwischen »reich« und »wohlhabend«. Sie erzählte mir, dass ihre Eltern Ärzte seien, dass es ihnen zwar an nichts mangeln würde, sie für ihren Lebensunterhalt aber durchaus arbeiten müssten. Wirklicher Reichtum hieße, »Kapital« zu besitzen und nicht arbeiten zu müssen. Dort, wo ich herkam, vermochten sich die wenigsten vorzustellen, dass jemand höher auf der sozialen Leiter stehen konnte als ein Arzt.
    Im Kino sah ich seltsame neue Filme mit Untertiteln, im Supermarkt seltsames neues Gemüse (ich schälte meine erste Knoblauchzehe mit zwanzig) und im Hörsaal seltsame neue Konzepte: Vorsehung, die Augustiner, Strukturalismus, ironische Distanz.
    Den unzuverlässigen Erzähler.
    Ich beteiligte mich an engagierten Diskussionen in der Mensa, führte heftige Streitgespräche im Pub – auch das war Teil jenes Transformationsprozesses, dem die Universität mich stillschweigend unterzog. Eines Tages nahm Hilly oder Ally auf einer Party meine Hand, begegnete meinem Blick mit ihren klaren grünen Augen – Augen, die nie etwas Schlechtes oder Hässliches gesehen hatten, die nur Gutes kannten und auch weiterhin nur Gutes erwarteten – und sagte mir, ich sei »anders als die anderen«. Ich hätte nicht nur »Mist im Kopf«. Ich würde mich für andere Menschen »interessieren«. Ich würde »zuhören«. Ich würde nicht die ganze Zeit bloß »von mir selbst reden«.
    Später im Bett gestand sie mir außerdem, dass meine Vergangenheit ihr »ein Buch mit sieben Siegeln« sei. Ich zuckte mit den Achseln, lächelte traurig und erzählte ihr meine Geschichte: der Vater abwesend, die Mutter Alkoholikerin, nach dem Tod der Eltern vom gutmütigen Onkel aufgezogen. Zur Erschaffung dieser Legende war gar nicht sonderlich viel Fantasie vonnöten gewesen. Und das Mädchen tat etwas für mich, wozu ich damals selbst nicht in der Lage war. Dort, in dem schmalen, aber warmen Bett, während hinter uns der walisische Regen ans Fenster trommelte, vergoss sie um meinetwillen heiße Tränen.
    Mein Dialekt schliff sich allmählich ab, während meine Zunge innerhalb und außerhalb der Vorlesungen lernte, fremdartige neue Worte zu bilden. Worte, die in meiner Kindheit keinen Platz gehabt hatten: Lunch, Fresko, Giotto, Croissant.
    Ich war einmal William Anderson gewesen.
    1992 machte ich meinen Bachelor in Englischer Sprache und Literatur. Als im

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