Das Gebot der Rache
Jahr darauf ein Boulevardblatt behauptete, meine Identität gelüftet zu haben – was sich allerdings als Ente erwies –, zog ich nach Kanada. Es war weit genug weg, man sprach dort Englisch, und es gab eine große schottische Exilgemeinde. Also würde ich dort nicht weiter auffallen. Ich studierte auf Magister an der Universität von Toronto. Dann zog ich für das Journalismus-Aufbaustudium nach Regina. Dort lernte ich Sammy kennen. Wir bekamen Walt.
Ich war Donald Miller.
28
Ich hörte auf zu reden. Ich weiß nicht, wie lange es gedauert hatte, bis alles raus war. Walt blickte mich an. Ich spürte es, auch wenn ich ihm nicht in die Augen sehen konnte. Gill Docherty saß immer noch auf der Tischkante, die Arme vor der Brust verschränkt. Ich schwieg.
»Danke«, sagte sie. »Weißt du was? Ich konnte erst gar nicht glauben, dass du es wirklich warst. Nach all der Zeit?« Sie kam jetzt um den Tisch herum, in der Hand hielt sie das Messer. »Und was für ein Schwein du gehabt hast! Dieses reiche Mädchen zu heiraten? Dein riesiges Haus und dein nettes, beschauliches Leben als Hausmann? Und weißt du was? Ich habe immer schon geglaubt, dass du derjenige wärst, den ich am ehesten kriegen könnte. Derek Bannerman? Der wird, so leid es mir tut, die Gefängnismauern nie mehr von außen sehen. Dein Freund Tommy? Tja, du weißt, was mit ihm passiert ist: Den Müll hat jemand anderer für mich entsorgt. Aber du, mit deiner ach so vorbildlichen Resozialisierung … Und dann das letzte Jahr? Das hat meine Geduld wirklich auf eine harte Probe gestellt. Dein Vertrauen zu erringen. Auf den richtigen Zeitpunkt zu warten. Nach meinem letzten Winter hier hatte ich darauf gehofft, dass das Wetter uns die nötige Privatsphäre verschaffen würde. Ich hatte sogar schon daran gedacht, unseren kleinen Walt hier einfach zu entführen. Aber das Geld deines Schwiegervaters … es hätte alles nur noch komplizierter gemacht. Außerdem wollte ich, dass du dabei zusiehst.«
»Bitte, töten Sie mich ruhig. Aber lassen Sie Walt gehen.«
»Dich töten?« Sie lachte. Es schien sie wirklich zu amüsieren. »Ich werde dich nicht töten.« Sie stellte sich hinter Walts Stuhl und schob ihn auf den Tisch zu. Walt schrie in sein Klebeband, zerrte an seinen Fesseln.
»Oh, bitte, o Gott …«
Sie rammte den Stuhl gegen den Tisch, befreite Walts rechten Arm und presste seine Hand flach auf die unbehandelte Holzfläche. Walt stemmte sich dagegen. Er zerrte und drückte, so fest er nur konnte. Sie griff nach dem Jagdmesser. Wegen des Klebebands konnte ich nicht verstehen, was Walt schrie, aber ich wusste es trotzdem. »Daddy! Daddy!«
» NEIN! «, brüllte ich. » NICHT! «
Sie setzte die Spitze des Messers vor Walts Hand auf der Tischplatte auf und senkte die Klinge bis über seinen kleinen Finger. »Walt?«, instruierte sie meinen Sohn. »Denk immer daran: Alles, was dir heute Nacht passieren wird, hast du ganz allein deinem Vater zu verdanken. Er hat dir das angetan. Verstehst du?« Walt wand sich auf seinem Stuhl. Verzweifelt versuchte er, etwas zu sagen. Durch den Schleier meiner eigenen Tränen und Schreie sah ich ihn plötzlich bei seiner Geburt vor mir – ein heulendes, blutiges Häuflein Mensch, eingewickelt in ein Krankenhaushandtuch. Abermals verspürte ich dieses abgrundtiefe Verlangen, ihn zu beschützen und zu behüten.
Dann sauste die Klinge herunter, und ich verlor das Bewusstsein. Eine gnädige Dunkelheit legte sich über den Keller. Doch ich hörte, wie Gill Docherty mit mir sprach. Sie beugte sich über mich, packte mich an den Haaren und redete auf mich ein.
29
Von Anfang an war dir klar gewesen, dass du ihn niemals auf diese Schule hättest schicken dürfen. Ihr hattet darüber gestritten. Aber am Ende war es Stephen, der sich durchsetzte. Mit seinem neuen Job, der Lohnkürzung und den Hypothekenraten war Hutchinson einfach zu teuer geworden. Also besuchte dein perfekter, begabter kleiner Junge künftig die öffentliche Schule von Ravenscroft. Es brach dir jedes Mal das Herz, im Auto zu sitzen, eurem alten blauen Triumph Dolomite, und ihn durch das Tor schreiten zu sehen, durch die finster blickenden Reihen herumlungernder Jungs. Jungs, die ständig auf den Boden spuckten. Die Sorte Jungs, die ihre Schule bloß als Gefängnis betrachteten, die Zeit dort als eine Strafe, die sie abzusitzen hatten, bevor das echte Leben begann. Ein Leben, das für die meisten von ihnen bestenfalls einen Job an irgendeinem Fließband
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