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Das Gebot der Rache

Das Gebot der Rache

Titel: Das Gebot der Rache Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Niven
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war er immer.
    Du hattest die Sandwiches in eine Tupperdose gelegt und sie mit einer Tüte Saft und einem Schokoriegel in seinen Rucksack gepackt.
    Dein letzter Akt mütterlicher Fürsorge.
    Später fischten sie den Rucksack aus dem Wasser, nicht weit von seiner Leiche entfernt. Die Sandwiches waren noch trocken und ungegessen, in ihrer Plastikdose vor dem Wasser geschützt. Im Rucksack befand sich auch ein Klümpchen Alufolie. Er hatte den Schokoriegel gleich gegessen, hatte es mal wieder nicht abwarten können. Oft stellst du ihn dir dabei vor: wie er das Papier aufreißt und hineinbeißt, genüsslich kaut, während er mit seiner Angel das Flussufer entlangschlendert. Ob er ihn gerade aufgegessen hatte, als er sie traf? Du kannst nicht anders, als dich das immer wieder zu fragen. War da ein dicker Schokoschmelz auf seiner Zunge, Waffelstückchen zwischen seinen Zähnen, als er an dem Wehr um die Ecke bog? Er hatte nicht mehr gegessen, als er auf sie traf, das wusstest du genau. Das Klümpchen Alufolie, das du als Verpackung des Schokoriegels identifiziert hattest – er hätte es nie achtlos auf den Boden geworfen, wie so viele Jungs in seinem Alter es taten. Wenn er noch gegessen hätte, als er sie traf, dann hätte er nicht mehr genug Zeit gehabt, die Alufolie zusammenzuknüllen und in den Rucksack zu stecken. Er warf seinen Müll nicht einfach weg. Über viele Jahre sollte schon die bloße Erinnerung an diese winzigen Details ausreichen, um dich zusammenbrechen zu lassen. Es sollte Anlass genug sein, dir ein wenig mehr Wodka ins Glas zu gießen.
    Natürlich war Craig nicht perfekt. Er hatte ein Alter erreicht, in dem seine Intelligenz allmählich die deine überflügelte, was gelegentlich eine sarkastische Ader in ihm aufblitzen ließ. Er konnte einen enormen Sprachwitz an den Tag legen, hatte aber noch nicht gelernt, ihn adäquat einzusetzen. Immer öfter musstest du mit ihm schimpfen, weil er frech wurde. Stephen war da entspannter. Er sah das als Hinweis darauf, dass Craig mit sechzehn oder siebzehn zu einem erstklassigen Rhetoriker gereift sein würde, einem sicheren Kandidaten für das Debattierteam, was sich in seiner Universitätsbewerbung ausgesprochen gut machen würde.
    Craig war sich noch nicht sicher, was genau er einmal werden wollte – er hatte ein Faible für die Naturwissenschaften, seinen Physiklehrer Mr. Cummings verehrte er ganz besonders. Doch Stephen sprach bereits ganz begeistert davon, dass Craig einmal, wie er selbst, in Glasgow studieren würde. Davon, wie ihr beiden dort hinfahren und ihn besuchen würdet. Vom guten Essen in den Restaurants an der Byres Road. Von Spaziergängen durch den Kelvingrove Park, durch das bunte Herbstlaub auf den gotischen Innenhöfen der alten Universität, wenn Craig im Oktober 1987 sein erstes Semester begann. »Aber Stephen«, pflegtest du darauf zu erwidern, »er ist gerade mal dreizehn. Lass uns doch erst einmal abwarten.«
    Der Prozess. Diese drei Jungs, wie sie nervös grinsend auf der Anklagebank saßen. Die schrecklichen Einzelheiten, die im Verlauf der Verhandlung ans Licht kamen.
    Grafitsplitter in seinem Rektum.
    Fünf Tage im kalten Wasser.
    Dein kleiner Liebling.
    »Fünf Faden tief er liegt, sein Skelett wird zur Koralle, seine Augen Meerkristalle.«
    Fische, die von seinen Eingeweiden zehrten und sich in ihn hineinfraßen. Fliegen, die ihre Eier in ihm ablegten. Maden, die sich in seinem Fleisch einnisteten, in seiner wunderschönen, weichen Haut, in der du früher dein Gesicht vergraben, ihn dabei gekitzelt und seinen süßen Babyduft eingesogen hattest. Wasserratten, die an ihm nagten, während er mit dem Gesicht nach unten im graubraunen Fluss trieb. Wie er diese Jungen angesehen haben musste, als sie ihn schlugen und auspeitschten, als er das ganze Ausmaß ihrer Grausamkeit zu spüren bekam. Wie er geschrien haben musste, als sie …
    Nacht für Nacht hattest du dir das angetan. Stunde um Stunde. Wieder und wieder starb dein Sohn. Du maltest dir immer neue Einzelheiten aus. Jede Nacht schrie Craig flehend um Hilfe, und du saßt bloß da und hörtest zu.
    Und so wurdest du wahnsinnig. Langsam, aber sicher wurdest du völlig irre.
    Auf gewisse Art war das sogar besser für dich. Du hattest einfach dichtgemacht. Mit dem Leben aufgehört. Nachdem du das Frühstück abgeräumt hattest, knickten die Beine unter dir weg. Du saßt auf dem Boden, mit dem Rücken an der Wand, und das Nächste, was du wahrnahmst, war, dass die Haustür aufging und

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