Das Gedächtnis der Libellen
Ilja war dort nur als Gedankenbesucher zu Gast.
Vielleicht sind die größten Geschenke des Lebens jene unerfüllten Wünsche, die wir für unser Überleben wichtig hielten, die sich aber nicht erfüllten, weil sie sich nicht erfüllen durften. Ilja brachte mir durch sein Verschwinden bei, dass das Wünschen nicht mehr hilft, niemandem, ihm nicht, mir nicht, keinem anderen Menschen. Und vielleicht hat das Wünschen noch nie geholfen, vielleicht hat es uns alle immer nur ein wenig getröstet, wie Schokolade in der Kinderzeit, wenn das Süße noch das Versprechen und die Einlösung des Versprechens in einem ist. Nur ich lebte offenbar noch in diesem geschichtslosen Raum, stand an meiner inneren Wand, fest befreundet mit meiner Imaginationsfähigkeit, und stellte mir Dinge vor, Dinge, die lediglich weitere Vorstellungen in mir auslösten. Es war aber vorbei. Ilja war weg. Es war so sehr und so schnell vorbei, dass ich manchmal glaubte, mir alles eingebildet, mir Ilja ausgedacht zu haben, um nicht, Tür an Tür zur Welt, mit der bloßen Erinnerung an uralte Zeiten allein sein zu müssen. Aber Ilja war einmal ein berührbarer Mensch und er ist damals mein Ilja gewesen. Später benutzte er Wörter wie Kriegswerkzeug. Seine Stimme hatte alle Wärme verloren. Er sprach von uns immer öfter als Kämpfenden, die nun ihre Waffen niederstrecken müssten, so, als sei unsere Liebe eine napoleonische Kriegsroute gewesen. Dennoch wird Ilja Teil meiner Haut bleiben, einer Haut, mit der ich mich erinnere. Bleiben werden auch die geöffneten zeitlosen Türen in mir, die Räume, die hinter den versperrten Türen warteten und die er mir zeigte, weil junge Hunde einfach überall hinrennen, ohne um Erlaubnis zu bitten. Und als das Leben sagte, fürchte dich nicht … weil ich dich lieb habe, fürchtete ich mich wie noch nie zuvor, ich kannte die Räume, ich kannte das Leben draußen in der greifbaren Wirklichkeit nicht. Doch das Leben sagte, so fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her! Und zum Süden : Halte nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.
Wenn ich abends allein nach Hause kam, aus dem Kino oder von einem Treffen mit Arjeta, las ich immer in der Bibel. Ich fühlte mich von der Dunkelheit der Nacht beschützend umarmt. Eine neue Stille kehrte in mich ein. Ich fing geradezu körperlich an zu begreifen, dass unzählige Menschen vor mir das Gleiche wie ich erlebt hatten und dass diese Erfahrung in allen ihren Variationen auf unzählige andere Menschen wartete. Es gehörte dazu und würde nie aufhören, Menschen würden immer lieben und verlieren, sie würden es immer lernen müssen, wie man liebt, verliert und wie man mit dem Verlust weiterlebt. Und mir schien in diesen Nächten, in denen ich im Schutz der Dunkelheit zu neuer Ruhe fand, jeder Mensch sei eine Zahl und jede Zahl werde früher oder später an die Reihe kommen und ein Wesen mit Erinnerung werden, um später eine Summe aus allem zu ergeben. Wer sich nicht erinnert, hat keine Geschichte, der ist kein Mensch. Diese Idee nahm mich so in Beschlag, dass ich das Innere meiner Erinnerung zu fühlen und darin Wellen zu hören glaubte, große mächtige Wellen, dann wieder behutsam kleine, sechs, sieben Stück, die leise wie ein Kinderlächeln waren.
In schmerzhafter Eindeutigkeit verstand ich, dass ich keine Eltern hatte, niemanden, zu dem ich wirklich gehörte. Ich begriff es mit jeder Zelle meines Körpers. Diese Verwandtschaft war mir früh genommen worden. Im Außen, jenem Raum, den wir irgendwann als unsere eigene Zukunft betreten, wundern und fragen wir uns, wie wir von einem bestimmten Menschen hatten abstammen und wie wir nur den einen oder anderen hatten lieben können, der unseren Weg kreuzte, was genau jener Zustand war, den wir zusammen mit dem anderen Liebe nannten. Das Leben hatte uns alle gleich stark und gleich schwach gemacht, das Leben war Vaterland, Mutterland, das Leben war Elternland. Mein Ilja war Iljaland. Arjeta ist sich sicher, dass ich heute an ihm vorbeilaufen, ihn nicht einmal anschauen würde, dass sein Gesicht in irgendeiner beliebigen Fußgängerzone auf mich genauso wirkte wie jedes andere Gesicht, beliebig, zum Vergessen gemacht, ein Durchgangsgesicht. Sie sagt sogar, dass Iljas
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