Das Gedächtnis der Libellen
Gesicht ein Allerweltsgesicht wäre, wenn ich es jetzt zu sehen bekäme. So ein Gesicht, sagte Arjeta, das siehst du doch heute gar nicht.
Ich weiß nicht, ob Arjeta Recht hat und ob man in dieser Frage überhaupt Recht bekommen darf. Geteilte Augenblicke sind für immer geteilt, im Guten und im Schlechten. Niemand kann sie mehr auslöschen, auch die Beteiligten selbst nicht. Wir können nicht aus der Gegenwart heraus die Vergangenheit umdeuten, und doch scheint es bei genauer Betrachtung, als sei das Gestern veränderbar, als könnte es manchmal sogar durch das Schauen und Anschauen besser werden. Aber auch erschreckender kann es werden, wenn die Gesichter, die wir einst liebten, ihre Untergesichter zeigen und wir erkennen müssen, dass wir Tarnungen, Masken und Schutzschilder geliebt haben, anfällig waren für Verdunkelungen, vielleicht, weil wir uns selbst nicht kannten. Die falschen Gesichter lösen sich in der Luft wie Rauch im Wind auf. Gegebene Küsse können aber dennoch keine Asche werden. Wir schon, der Körper lebt im Außen, doch das Lieben und das Küssen stehen höher als wir. Mag sein, dass das der Grund ist, warum wir immer lieben und immer küssen können. Das Lieben ist eine Suche nach der ureigenen Unsterblichkeit. Das erklärt unser allgegenwärtiges Scheitern, aber es erklärt auch die große Kraft unserer Suche.
Manchmal stelle ich mir vor, dass alle Glücksmomente, jeder Hauch von Frieden und Schönheit, von Ruhe und Friedfertigkeit, so etwas wie eine Wesenssumme ergeben werden, dass im Buch des Lebens alles verzeichnet sein wird, alles, was mich ausmacht und formt, jede Begegnung, jede Berührung, jede Glücks- und jede Unglücksträne, jedes Wetter in meiner Seele, jedes Gefühl, das ich einmal im Guten und im Schlechten fühlte. Das Schlechte würde nur, wenn ich es mir vor Augen geführt hätte, am Ende dieser Bilanz von mir abfallen, so wie die Blätter von den Bäumen am Ende des Herbstes. Aber auch nur dann, wenn ich die neue Jahreszeit verdient hätte, mit meinem Atem, mit meiner eigenen Art zu leben. Dann könnte ich auch am Morgen Sätze sagen wie Gedenke unser zum Leben, Herr, der will, dass wir leben, und schreibe uns in das Buch des Lebens, um deinetwillen, Ewiglebender! Oder Siehe, ich komme, im Buch ist auch von mir geschrieben. Aber wer von uns wurde schon in der Bibel erwähnt? Oder sind wir es alle, die dort erwähnt werden?
Ilja konnte mich damals wie ein Haus öffnen. Die Liebe und der Körper wurden zum ersten Mal ein Gleichklang. Es war neu und es war leicht und es war schön, so zu leben. Das Begehren löscht dich aus, wenn du allein bist. Nur zu zweit kann man die physische Liebe auf Dauer metaphysisch ertragen. Das Begehren ist eine Waffe, wenn der andere an einem Ort fern von dir lebt, in einer Straße, die du nie sehen wirst, erreichbar unter einer Telefonnummer, die du, obwohl du sie kennst, nie wählen wirst, in einer Wohnung, von deren Einrichtung du nichts weißt und auch nicht, ob der Mann, den du liebst, eine kleine oder eine große Kaffeetasse am Morgen benutzt, denn Tassen, die sind doch wichtig. Du stellst dir alles vor, die Tassen, den Kaffee, auch den Flur, das Bett, den Schreibtisch, seine T-Shirts, von denen er dir in Amsterdam kein einziges abgeben wollte, aus Angst, seine Frau würde sie zu Hause zählen. Merkwürdig, dass du ihn nicht dafür verachtet hast, sagt Arjeta, wo du doch so schnell und treffsicher Menschen verachten kannst, meist für ihre Schwächen, die du dir selbst nicht erlaubst, weil du lange nicht wusstest, wie man lebt, wenn man sich ein bisschen vergisst.
Als ich Arjeta von diesen imaginären Ausflügen in Iljas Leben erzählte, sagte sie, hast du das früher nie gemacht? Du stellst dir das erst jetzt alles vor? Jede Frau stellt sich etwas vor. Vielleicht warst du bisher keine Frau.
Arjetas unverblümte Direktheit hatte etwas Ungemütliches für mich. Aber es stimmte, es spielte überhaupt keine Rolle, was ich bisher zuwege gebracht, gelernt, erreicht hatte. Es bedeutete gar nichts, dass ich eine promovierte Physikerin war, ein paar Sprachen im Schlaf sprechen konnte, nichts davon sättigte jenes magnetisierte Begehren in mir, das sich seit der Begegnung mit Ilja nahezu organisch ausbreitete, als eroberten meine Zellen zum ersten Mal das Leben und als werde das unsichtbare Wirken meiner Organe wie eine mikroskopisch genaue, schicksalhafte Landschaft in mir verzeichnet, jeder Traum registriert, jeder Wunsch auf Hals und
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