Das Gedächtnis der Libellen
Unrecht, wie ich jetzt weiß, aber damals kam mir dieser Satz wie ein von Anfang an zum Scheitern verurteilter Versuch seiner Abwehr vor. Eine Lüge musste er sein, etwas Unwahres, das man sagt, um sich selbst zu entkommen. Notwehr auch, für den ersten Moment. Niemals kam ich auf den Gedanken, dass Iljas Satz genau so stimmen könnte. Von Anfang an stimmte sein Satz. Es lag nicht daran, dass Ilja verheiratet war.
Ilja weiß nichts von unserem Kind. Es ist ein Junge. Ich habe ihm den Namen Ezra gegeben. Manchmal, wenn ich Ezra beim Schlafen betrachte oder ihm Geschichten vorlese, sein Gesicht warm und zufrieden ist, werde ich ganz plötzlich schwermütig. Je mehr Ezra wächst, desto größer wird der Abstand zwischen Ilja und mir. In Ezras Augen blitzt immer öfter Iljas schelmisches Lachen auf. Aber Ezra kommt seinem Namen nicht nach, Ezra hilft mir nicht. Iljas Wangen erkenne ich an den Wangen unseres Kindes. Und dann denke ich fatalistische Sätze, ich brauche sie, um die Gegenwart auszuhalten. Ezra schläft. Um nicht zu weinen, denke ich, Ilja soll auf dem Sterbebett an unsere Nächte in Amsterdam denken, an das Lachen, das uns mitten im Liebesakt überkam, an die darauf folgende rastlose Reise in den Süden, der uns gehörte, weil uns alles in jenen Stunden gehört hat, da wir endlich voneinander wussten. Dann, an jenem frühen Abschiedsmorgen, die nackten Körper aneinandergepresst, zitterten wir schweißgebadet das Ende voraus; wir hatten beide Angst, dass der Abschied wirklich etwas ändern würde, ihn, mich, das, was wir jetzt schon wir nannten, ein Wir, das wirklichkeitsuntauglich war und das wir sicher verlieren würden, schon sehr bald.
Ilja entschied, dass wir uns wieder und wieder lieben sollten, er verbot mir, irgendetwas zu sagen, hielt mir den Mund zu, tat so, als sei dieses Zuhalten meines Mundes eine Art, die Lust anzuhalten und auszukosten. Ich schwieg freiwillig, ich kam wortlos um vor Müdigkeit, ein Übermaß an Lust und Schweiß an unseren Gelenken, Lenden und Fingern. Ich war stumm. Verzweifelt und messerartig versenkte er sich in mich. Wir röchelten, wir weinten. Der Liebe folgte ihre Verwandlung in Angst. Sie ließ uns nicht mehr los, nie wieder, bis alles vorbei war. Für immer vorbei, wie man das so sagt, wenn man auf den Genuss der Zeit und eines echten Körpers gekommen ist. Und an den Geschmack der Ewigkeit nicht mehr glauben kann. An die Ewigkeit glauben nur unglückliche Menschen, jene, die glücklich sind, wissen, dass es nur den Augenblick und mit ihm die Vergänglichkeit des Glücks gibt. Die Ewigkeit ist nur im Hier und Jetzt. Arjeta hatte Recht. Was ihr Sarajevo beigebracht hat, das habe ich von Ilja gelernt. Ohne berührbar zu sein, wurden Ilja und seine Sätze schnell zur metaphysischen Vertröstungsgrammatik. Und als Ilja überhaupt nicht mehr offen mit mir sprach, unsere warmen Wörter gegen eine kühle, logische Argumentiersprache tauschte, Sätze sagte, aber ich habe dir von Anfang an gesagt … da wusste ich, dass er der Ewigkeit verfallen war. Meinen tüchtigen Abraham nannte ich ihn jetzt, da wurde er böse und wollte einen Fluch aussprechen, aber er besann sich, er sagte, ich bin nicht gläubig, ich bin politisch links.
Das Ende tat viel mehr weh als die Hoffnung und die Sehnsucht dazwischen. Die Kopfparadiese durfte ich nicht mehr mit der Wirklichkeit verwechseln. Warum aber konnte ich trotz meiner Erkenntnis weiterhin nur so resistent wünschen? Ilja war doch weg. Wartete ich nun doch auf ein Wunder? Wie damals in der Kindheit, als meine Eltern verschwunden waren, verfiel ich auch jetzt in eine Art innere Dumpfheit, die mich aus dem Leben zu drücken schien, an eine innere Wand, an der ich nichts anderes als Stunde um Stunde nachdenken konnte. Wie war es dazu gekommen, dass ich Ilja getroffen hatte, fragte ich mich, als könnte mir diese Frage eine mathematische Gleichung, eine ganz einfache und logische Lösung offenbaren, wenn ich nur akribisch genug darüber nachdachte. Ein Gedankenkreislauf nach dem anderen verankerte sich in meinem Kopf. Wie war es überhaupt grundsätzlich möglich, dass sich unsere Lebenskoordinaten getroffen hatten? Warum gab es überhaupt die Wirklichkeit, warum den Blick auf die Zukunft? Warum wünschte ich, warum wünschten Menschen überhaupt? Aber das Glück der mathematischen Verknappung wurde mir trotz meiner vehementen Fragen nicht zuteil. Da war mein Balkon. Da war mein Leben. Da war meine Wohnung, meine Straße, meine Stadt.
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