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Das Gedächtnis der Libellen

Das Gedächtnis der Libellen

Titel: Das Gedächtnis der Libellen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marica Bodrožic
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Nieren überprüft. Eine neue Gleichung würde so entstehen, das Buch des Lebens würde mich prüfen, auf Herz und Nieren, so, wie es in der Bibel steht. Prüfe mich, Jehova, und erprobe mich, läutere meine Nieren und mein Herz.

    Als Ilja in mein Leben kam, stand mein akademischer Titel weit abseits der Frau. Irgendwie hat es Ilja geschafft, dass beides gleichwertig in mir wurde. Die Frau rückte ganz schnell an die Akademikerin heran. Mit Ilja wollte ich nur eine Frau sein, die da bleibt, wo sie gerade ist, und der man das Leben in der Phantasie verzeihen kann, weil man weiß, dass sie sich darin zu oft und zu Beginn nicht freiwillig aufgehalten hat. Ich weiß nicht, ob Ilja dieser Mann war, der diese Art Vergebung gewähren konnte, zugetraut habe ich es ihm. Doch hat Ilja mir nur ein einziges Mal etwas geschenkt. Es war keine Vergebung und auch nichts zum Anziehen. Es war ein Kästchen. Aus Holz, mit Intarsien, in einem orientalischen Muster, für meine Ohrringe.
    Ich sah mir das Kästchen oft und lange an und redete mir ein, dass es Ähnlichkeit mit Ilja hatte. Jedes Mal entdeckte ich etwas anderes an ihm, zum Beispiel, dass es innen etwas ungeschickt mit rotem Samtstoff ausgelegt war. Dabei war das Kästchen nicht größer als meine Hand. Das musste Mühe gemacht haben. Der Holzschnitzer hatte es auch nicht gerne getan, das sah ich an den Enden des Samtes, die lose nach außen guckten. Aber das Holz mit der Intarsienarbeit war schön, vollkommen, auf den ersten Blick nirgendwo ein kleiner Makel.
    Nachts stand ich auf, um auf meinem Balkon herumzustehen und die Sterne zu zählen. So etwas hatte ich vorher nie getan und wenn, dann habe ich es nicht Herumstehen genannt. Ich nahm das Kästchen mit nach draußen, ich hatte nichts anderes als diesen Gegenstand. Ich war so verliebt in Ilja, dass ich Stunden auf dem Balkon verbrachte, immer mit nackten Füßen, nach oben sehend, zum Himmel, zu den Sternen hinauf. Erst später bemerkte ich, dass es bewölkt war und keine Sterne zählbar waren. Im Himmel kann keiner leben. Trotzdem ist es gut, dass du einen Balkon hattest, sagte Arjeta neulich, stell dir vor, du hättest damals nur im Hochparterre gewohnt, wo hättest du denn da hinschauen können?

    Damals hielt ich die Sterne für Botschafterinnen, für die verlängerten Hände des Himmels, die mir die Vergrößerung meiner Welt anboten, damit ich weiterlebte. Ilja hatte es ausgesprochen, er hatte gesagt, ich liebe dich, er hat es vor allem dann gesagt, als ich ihn gebeten habe, es mir niemals wieder zu sagen. Ich schrieb ihm, wenn du mich wirklich liebst, dann schreibe mir nicht mehr, lass mich einfach gehen. Aber er ließ mich nicht gehen. Das Geheimnis ist das Muster. Ich wusste nicht, dass ich hätte gehen können. Mein Muster band mich an das Geheimnis. Ich blieb, weil ich dachte, es sei die einzige Möglichkeit zu leben. Damals hätte ich nicht sagen können, warum Ilja so schnell eine Art Krankheit in mir geworden war, aber genau das ist er ganz schnell geworden. Ich hatte mir vorgestellt, wenn die Krankheit nur weit genug weg wäre, dass sie Teil meiner Sprache werden könnte. Dann, dachte ich, würde es mir gelingen, wieder gesund, ganz und gar gesund und wieder ich selbst zu werden. Ich sagte es wieder, bitte, Ilja, wenn du mich liebst, dann schreib mir nicht mehr zurück, dann lass uns jetzt einfach alles beenden … verstehst du?

    Ilja verstand nicht, er schrieb mir einen langen Liebesbrief zurück. Ich liebe dich, sagte er, und gerade deshalb werde ich deinen Anordnungen nicht Folge leisten. Du kannst mich nicht einfach wie einen Gegenstand fortwerfen. Wieder trafen wir uns, wieder schrieben wir uns, wieder stand ich mit dem Kästchen in den Händen barfuß auf dem Balkon und versuchte die Sterne zu zählen, wieder wartete ich, bis Ilja sich meldete, bis Ilja schrieb, anrief, irgendein Treffen in Aussicht stellte. Warten und Durchhalten, offenbar dachte ich, das müsse man können, müsse bereit sein, sich selbst hintanzustellen. Ich wartete, tat das, was ich mit Bravour konnte, das Warten war mein Metier. Man hätte mir eine Art Wartediplom ausstellen und mich loben müssen, dass ich so grundlos hoffen, Sehnsucht haben konnte, aller Vergeblichkeit meines Wartens und der Sinnlosigkeit des Hoffens zum Trotz.
    Zum ersten Mal in meinem Leben schlief ich wartend neben dem Telefon ein, zufrieden wie ein Kind lehnte ich den Kopf an meinen Schreibtisch, verbrachte so Stunden, bis Ilja endlich anrief. Einmal

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