Das Gedächtnis der Libellen
durchquerte er in seinem schwarzen Saab seine ganze Stadt, fuhr von einem zum anderen Ende, während ich mit dem Kopf auf meinem Schreibtisch angelehnt einschlief. Er half einem Freund beim Umzug, wollte ihn nicht im Stich lassen. Als er endlich anrief, sagte er, dass die Zeit knapp sei. Wir legten auf. Ich ging auf den Balkon, stand dort wie auf einem anderen Planeten, überall war ich in diesem Augenblick, nur nicht in meinem Leben. Ich weiß nicht, wofür ich mich hielt, aber für was auch immer ich mich damals gehalten habe, ich bin es nicht gewesen. Aber wer war ich, wenn ich das war, wofür ich mich hielt? Arjeta riet mir davon ab, das in Erfahrung zu bringen. Das ist überhaupt nicht gut, wozu willst du das wissen, wer du bist?
Ilja war mir so wichtig geworden, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern konnte, wer ich für mich selbst war. Wer war ich denn? Jemand mit einer festen Adresse. Aber wollte ich nur jemand sein, den man anrufen, überprüfen, verifizieren konnte? Blutgruppe, Hautfarbe, Hobbys, Lieblingsbücher, Konfektionsgröße, Körbchengröße, Vorliebe für feine Dessous und all diese Dinge – gaben die nicht genügend Auskunft über mich?
Arjeta verdrehte die Augen. Ich glaube nicht, dass Ilja dir guttut, sagte sie, so viel wissen wir doch schon einmal. Immer seltener trafen wir uns, um den Herzklopfen verursachenden schwarzen Kaffee zu trinken, bei dem wir uns irgendeine düstere Zukunft voraussagten, um uns vor gefährlichen Liebesgeschichten zu retten. Das war einmal unsere Lieblingsbeschäftigung, jetzt wartete ich nur, mit einer Beharrlichkeit, die weder ich selbst noch Arjeta von mir kannte. Ich saß regelrecht in meinem winterharten Wartetunnel fest. Und hatte Angst, diesen Tunnel zu verlassen, vielleicht, weil ich längst wusste, dass draußen nur mein eigenes Leben sein würde, keineswegs aber Ilja. Ich hatte gar nicht vor, mit Ilja so viel über die Natur des Menschen zu lernen, aber gelernt habe ich dennoch etwas, zu spät fast, aber dafür weiß ich es für immer: Die anderen sitzen auch in anderen Tunneln fest. Sie haben Angst, den Tunnel zu verlassen. Denn draußen, im Licht, da wartet nur ihr eigenes Leben auf sie.
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Worte erstellen Lebenskonten in uns. Keine Liebeserklärung will uneingelöst bleiben, jedes Ich liebe Dich fordert etwas Neues heraus, einen neuen Gesichtsausdruck, eine neue Art rot zu werden, an den Wangen, an denen du sonst immer alles verstecken konntest, jetzt, jetzt nicht mehr, hast du nach der Begegnung mit Ilja gedacht, jetzt kannst du gar nichts mehr verstecken. Ilja hat den Schlüssel zu deinen Wangen. Das denkst du, viele Tage lang, bis du merkst, dass es wirklich stimmt, Ilja hat den Schlüssel zu deinen Wangen, zu dieser variierenden Art von Rot, die du selbst von dir gar nicht kanntest, bevor er sie dir gezeigt hat. Er könnte ein Maler sein, dieser Ilja, der dir da so vieles auf die Wangen malt, allein durch sein Vorhandensein in der Welt. Aber dann verstehst du durch den Abschied, dass Ilja deinen Wangenschlüssel in seinen Händen hält, um ihn erst einmal zu behalten. Er gibt ihn dir nicht, auch dann nicht, als du alles beenden willst, damit er seine Ehe leben kann, überhaupt leben, ohne dich und dein Gedächtnis, ohne deine Art von Zeugenschaft, die ihm langsam aber sicher anfängt Sorgen zu bereiten.
Er gibt dir den Schlüssel trotzdem nicht. Er will ihn tatsächlich erst einmal behalten. Ilja kann ihn dir nicht geben, sagt Arjeta, er kann nur dein tragisches Weltgefühl verstärken, weil er nie da ist, dein Ilja ist immer weg. Aber das ist nicht der richtige Grund, sage ich. Der Grund ist viel banaler und viel schmerzhafter. Liegt es nun daran, dass er verheiratet, also nicht frei ist, oder daran, dass er dich nicht wirklich, also auch genug liebt, will Arjeta wissen. Sie kann mich nicht schonen, sagt sie, weil sie mich liebt, sagt sie. In jedem Fall, denkt es in meinem Kopf lautlos und ohne Arjeta weiter, ist Ilja natürlich woanders, wie alle Menschen, die du geliebt hast, immer anderswo waren. Eine Weltkarte könntest du mit geschlossenen Augen zeichnen, so viele, die du geliebt hast, haben sich überallhin verstreut, um eins mit den Windrichtungen zu werden. Aber das Du, das dir Ilja geschenkt hat, von diesem Du hast du aus unerfindlichen Gründen angenommen, es sei ein körperliches, ein windloses Du. Das war es nicht. Du hast dich getäuscht. Und du schluckst jetzt, da es Herbst und Winter geworden ist und nicht einmal die
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