Das Geflecht
Geruchssinn habe.»
«Wenn Sie erlauben … ein kleiner Test?», bat Carolin. Sie trat zum Podium und hielt Tia ihr Handgelenk unter die Nase. «Erkennen Sie dieses Parfüm? Können Sie mir die Marke nennen?»
«Leider nein. Ich benutze niemals Parfüms, da sie meinen Geruchssinn irritieren und mir die Wahrnehmung meiner Umgebung erschweren. Daher kann ich Ihnen weder den Namen noch den Hersteller dieses Duftstoffs nennen.» Tia beugte sich vor und sog ein wenig von dem Duft ein. «Allenfalls könnte ich Ihnen etwas über die Zusammensetzung sagen. Die hervorstechendste Komponente ist Cumarin, ein Derivat der Zimtsäure, die in bestimmten Blütenpflanzen vorkommt. Weitere Bestandteile sind Lorbeer und Spuren von polyzyklischem Moschus.»
«Beeindruckend!» Carolin erwiderte ihr Lächeln. «Die Parfümindustrie sollte froh sein, dass Sie nicht zu ihrer Kundschaft zählen – andernfalls würden Sie womöglich ihre bestgehüteten Geheimnisse aufdecken.»
«Auf YouTube wurde kürzlich ein Video über Sie eingestellt», warf ein anderer Journalist ein, in dem Carolin einen Vertreterder Konkurrenz erkannte, des Hertzauer Tageblatts. «Ein zweiminütiger Spot von Ihrer Klettertour in der tiefsten Höhle Englands, der … Ogof … ich weiß nicht, ob ich das richtig aussprechen kann …»
«Ogof Ffynnon Ddu», half Tia. «Was denn für ein Video?»
«Sie wussten nichts davon?»
«Ich sehe mir keine Videos an. Für Blinde ist so etwas ziemlich langweilig.»
Die Zuhörer lachten.
«Der Film zeigt, wie Sie an einer Felswand hochklettern. Hat wohl irgendein Tourist mit einem Fotohandy aufgenommen. Auffällig ist, dass Sie nicht den üblichen Overall tragen, sondern eine Art einteiligen Badeanzug, der – gelinde gesagt – ziemlich knapp geschnitten ist. Titel des Videos:
Sexy German Caver Girl.
Was sagen Sie dazu?»
Tia schwieg verdutzt.
Typisch Hertzauer Tageblatt, dachte Carolin kopfschüttelnd. Da kommt schon mal eine namhafte Wissenschaftlerin zu uns in die Provinz, und das Einzige, was diese Boulevardzeitung interessiert, ist ihr Outfit.
«Ich trage bei meinen Touren einen speziellen Chloropren-Anzug», erklärte Tia. «Dass er viel Haut frei lässt, ist beabsichtigt, denn da ich nun einmal nicht sehen kann, benötige ich meine Haut als Sinnesfläche. So kann ich feinste Luftbewegungen wahrnehmen, die mich zum Beispiel darüber informieren, wo sich ein Durchgang befindet oder wie groß der Abstand zu einem Hindernis ist.»
«Ist das nicht ein reichlich luftiges Outfit für Höhlenkletterer?», fragte der Journalist.
«Wie man’s nimmt – in den meisten natürlichen Höhlen herrscht ganzjährig eine Temperatur um die zehn Grad. Ich war noch nie sehr kälteempfindlich und komme gut damitzurecht. Für den Notfall habe ich immer einen Overall im Gepäck.»
«Ein paar persönliche Daten noch!», bat Carolin, wobei sie rasch ihre Notizen überflog. «Sie sind siebenundzwanzig Jahre alt, kinderlos und unverheiratet – richtig?»
Tia hob die Brauen. «Ist das von Interesse?»
«Für unsere Leser schon», beharrte Carolin. «Also: Keine Familie?»
«Nein, abgesehen von meinem Vater.»
«Und Sie studieren Speläologie?»
«Höhlenforschung ist in Deutschland kein eigenständiges Studienfach. Ich studiere Geologie und Biochemie. Auf Speläologie kann man sich spezialisieren, indem man entsprechende Seminare belegt. Die praktischen Fertigkeiten muss man sich außerhalb der Uni aneignen, vor allem Abseil- und Klettertechnik, aber auch Erste Hilfe und Notfallmedizin – schließlich ist es ein gefährliches Metier.»
«Was bewegt eine junge Frau wie Sie, ihr Leben mit der Erkundung von Höhlen zu verbringen?»
«Das ist eine gute Frage», gab Tia zu. «Eigentlich weiß ich es selbst nicht genau. Eine gewisse Beziehung zu den Tiefen der Erde habe ich vielleicht geerbt, denn mein Vater war Bergmann. Er hat zwanzig Jahre lang in einer der letzten Kohlegruben im Ruhrgebiet gearbeitet. Das Innere der Erde interessierte mich schon lange, bevor ich mein Augenlicht verlor. Mit sieben Jahren erforschte ich eine Kalksteinhöhle, die sich nahe dem Landhaus meiner Großmutter befand, verirrte mich und fand erst nach Stunden wieder heraus.»
«Oh – das war bestimmt ein traumatisches Ereignis.»
Tia zuckte die Achseln. «Eigentlich nicht. Traumatisierend war höchstens, dass mir meine Großmutter danach zwei Wochen Hausarrest erteilte.»
Wieder lachten die Zuhörer, und auch Carolin schmunzelte.
«Ihre
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