Das Geflecht
fünfzig Jahren stillgelegt», sagte Tia, die praktisch alle deutschen Bergwerke samt ihrer Betriebsgeschichte im Kopf hatte.
«Sind sie auch. Aber ein paar Jugendliche haben sich Zutritt verschafft – unter ihnen mein Sohn. Ihm selbst ist nichts passiert, aber seine Freundin und ein Klassenkamerad sind in einen Schacht gestürzt, unter dem sich eine unerforschte Höhle befindet.»
«Um Himmels willen …» Tia, deren Interesse augenblicklich geweckt war, tastete nach einem Stuhl und setzte sich. «Gestürzt, sagen Sie?»
«Ja, aber sie sind am Leben. Mein Sohn hörte das Mädchen schreien …»
«Wann ist das passiert?»
«Vor etwa einer halben Stunde.»
«Haben Sie die Grubenwehr alarmiert?»
«Es gibt hier keine Grubenwehr mehr, seit die letzten Bergwerke stillgelegt wurden. Der Landes-Höhlenrettungsverbandtrommelt ein Team zusammen, aber es wird mindestens drei Stunden dauern, bis der Hubschrauber hier ist – vielleicht auch länger.»
«Was ist mit der Feuerwehr?»
«Eben eingetroffen. Das Problem ist nur, dass sie keine elektrische Seilwinde haben, die klein genug wäre, um sie in diesem engen Stollen zu installieren. Man müsste also einen einzelnen Mann mit einem Kletterseil hinunterschicken – und keiner der Leute hat Erfahrung mit Höhlenrettungen.»
Tia nickte. «Ich glaube, ich verstehe, worauf Sie hinauswollen.»
«Bitte, Frau Traveen!», bat Bringshaus. «Linden ist nicht einmal fünfzehn Kilometer entfernt. Mit dem Auto könnten Sie in einer halben Stunde vor Ort sein. Ich würde es gern Ihnen anvertrauen, die Freunde meines Sohnes zu retten – sofern Sie Ihre Kletterausrüstung bei sich haben.»
«Habe ich», bestätigte Tia.
«Ich werde gut dafür bezahlen! Ich weiß, dass Sie eigentlich nur zufällig in unserer Gegend sind, aber …»
«Kein Problem», entschied Tia spontan. «Über Geld brauchen wir nicht zu reden, damit verschwenden wir nur Zeit.»
«Sie kommen?» Bringshaus schien kaum fassen zu können, dass es keiner weiteren Überredungskünste bedurfte. «Wirklich?»
«Bin sozusagen schon unterwegs», bestätigte Tia, während sie spürte, dass Leon an ihre Seite getreten war, um mitzuhören. «Wo finde ich Sie?»
«Haben Sie ein Navi?»
«Klar.»
«Programmieren Sie es auf
Sehenswürdigkeiten: Kugelberg, Aussichtsplatz.
Ich warte auf dem Parkplatz auf Sie. Von dort sind es nur zwei Minuten zu Fuß.»
«Gut. Sorgen Sie dafür, dass die Feuerwehr dableibt! Wir werden starke Arme brauchen, denn wenn wir keine Seilwinde benutzen können, müssen wir Verletzte womöglich mit Muskelkraft hinaufziehen.»
«Ja, wird gemacht.» Bringshaus unterbrach sich. «Ich danke Ihnen, Frau Traveen! Ich weiß gar nicht, was ich sagen soll …»
«Dann sagen Sie am besten nichts mehr», riet Tia. «Rechnen Sie mit mir in dreißig Minuten.»
Sie legte auf und wandte sich Leon zu.
«Eilauftrag?», erriet er.
Tia nickte. «Zwei Jugendliche sind in einen Bergwerksstollen gestürzt.»
«Tja … das war’s dann wohl mit dem gemütlichen Ausklang des Abends.»
«Tut mir leid, Leon», sagte Tia ehrlich. «Aber es geht um Menschenleben! Ich konnte einfach nicht nein sagen. Lass uns schnell aufs Zimmer gehen, damit ich meinen Cave-Suit anlegen und die nötigsten Dinge einpacken kann. Glaubst du, wir schaffen es in einer halben Stunde bis Linden?»
Leon seufzte ergeben. «Sicher.»
••• 20 : 25 ••• LEON •••
Zehn Minuten später saßen beide im Wagen und brausten über die beinahe leergefegte Autobahn. Während Leon das Navi einschaltete, um die richtige Ausfahrt nicht zu verpassen, warf er einen Seitenblick auf Tia. Sie schwieg und hatte den Kopf zum Fenster gewandt, als starre sie nach draußen in die Dunkelheit.Was sie wohl sieht?, fragte er sich. Bilder aus der Vergangenheit vielleicht?
Er ahnte, dass sie in Gedanken bei den beiden verunglückten Jugendlichen war – und das erinnerte sie zweifellos an ihren eigenen, schicksalhaften Unfall vor fünfzehn Jahren. Ob sie gerade ihre letzten Wahrnehmungen aus der Welt des Lichts rekapitulierte? Blitzendes Blaulicht, das Innere des Notarztwagens, die weiße Decke des Krankenhauszimmers? Leon wusste, dass diese Bilder sie noch heute gelegentlich heimsuchten, denn manchmal hörte er sie im Schlaf sprechen, wenn er spätabends an ihrer Zimmertür vorbeiging. Nur mit Mühe konnte er sich in solchen Momenten davon abhalten, einfach hineinzugehen, sich an ihr Bett zu setzen und sie in die Arme zu
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