Das Geflecht
Arbeit erlaubt es Ihnen, aus einer Schwäche eine Stärke zu machen», fuhr sie fort, «da Sie sich im Dunkeln offenbar besser zurechtfinden als die meisten Menschen. Das ist faszinierend! Wie orientieren Sie sich im Innern einer Höhle?»
«Mit der Methode von Daniel Kish», antwortete Tia. «Vielleicht haben Sie schon von ihm gehört, er leitet eine berühmte amerikanische Blindenschule. Kish hat eine Technik entwickelt, mit der Zunge zu schnalzen und an den Echos Gegenstände zu erkennen, ganz ähnlich dem natürlichen Radar von Fledermäusen. Die Methode erfordert jahrelange Übung, aber sie ist genial. Kish kann damit Fahrradfahren und auf Bäume klettern – und ich kann mich in geschlossenen Räumen zurechtfinden, weit besser sogar als im Freien.»
«Und wie bewältigen Sie Ihren oberirdischen Alltag?»
«Ganz gut, denke ich. Natürlich muss ich auf manches verzichten, zum Beispiel aufs Autofahren. Und hin und wieder verlege ich meinen Wohnungsschlüssel und kann ihn stundenlang nicht wiederfinden – aber das passiert meines Wissens auch Leuten, die sehen können. Mein Studium jedenfalls kann ich fast genauso schnell wie andere absolvieren, denn es gibt, wie Sie sicher wissen, spezielle Computersoftware und Lesescanner für Blinde. Dass ich meine Doktorarbeit immer noch nicht fertig habe, liegt also nicht an meiner Behinderung, sondern schlicht an meiner Faulheit. Und wenn es doch einmal ein Problem im Alltag gibt, ist Leon an meiner Seite.»
Tia drehte sich um und nickte zu einer Ecke hinter dem Podium hinüber, wo zu Beginn des Vortrags ein junger Mann Platz genommen hatte. Carolin war er bereits aufgefallen: Groß, blond, mit zentimeterkurz rasierten Haaren und jungenhaft sympathischem Gesicht.
«Ihr Lebensgefährte?», mutmaßte sie.
«Mein bester Freund», korrigierte Tia. «Ohne ihn hätte ich weder die Bergleute in Biedersheim gerettet noch irgendeinen Rekord im Höhlenklettern gebrochen – nicht einmal heute Abend hierhergefunden.»
Carolin hob rasch ihr Fotohandy, um den Mann abzulichten, der beinahe schüchtern den Blick senkte.
«Aber jetzt müssen wir zurück ins Hotel», schloss Tia und setzte ihre dunkle Brille wieder auf. «Vielen Dank, dass Sie hier waren!»
Die Stühle scharrten, und Carolin beobachtete, wie der junge Mann aufstand und auf Tia zueilte, die suchend einen Arm nach ihm ausstreckte. Instinktiv schoss sie ein weiteres Foto.
Das sollte ich als Aufmacher für den Artikel nehmen, dachte sie. Eine blinde Frau, die eine wissenschaftliche Passion hat, gibt leider noch keine Story her. Man wird sie bewundern oder bedauern – aber eine Liebesgeschichte würde das Ganze interessant machen.
Nachdenklich schlenderte sie zum Ausgang, als das Fiepen ihres Handys sie aufschreckte. Das Display zeigte die Nummer der Redaktion.
«Ja?»
«Hallo Frau Frey, Bittrich hier», meldete sich ihr Chefredakteur. «Ist der Vortrag schon zu Ende?»
«Ja, ich bin eben auf dem Weg nach draußen.»
«Gut! Ich höre nämlich gerade Sirenen. Die Feuerwehr rückt aus, offenbar über die Umgehungsstraße Richtung Naturschutzgebiet.»
Carolin seufzte. Das klang nach einem Sonderauftrag für den Feierabend. Klar, dass Bittrich ausgerechnet sie anrief – von einer Frau ohne Familie erwartete man, dass sie allzeit flexibel war und gern ein paar Überstunden machte.
«Ich weiß, es ist Freitagabend», schränkte Bittrich vorsorglich ein, «aber ich wüsste nicht, wen ich sonst darauf ansetzen könnte. Wenn es irgendwo brennt oder sonst etwas Spektakuläres passiert, würde ich das gern noch in die Samstagsausgabe bringen – ein paar Zeilen und vielleicht ein Foto werden genügen. Könnten Sie sich auf dem Rückweg darum kümmern?»
Carolin seufzte abermals. «Es wird mir wohl nichts anderes übrigbleiben.»
«Tun Sie mir den Gefallen!», bat Bittrich. «Fragen Sie am besten direkt bei der Feuerwache nach, woher der Notruf kam. Wenn die es Ihnen nicht verraten wollen, folgen Sie einfach den Sirenen.»
«Na schön», versprach Carolin. «Ich werd’s versuchen.»
••• 20 : 00 ••• TIA •••
Eine Tür klappte. Die Temperatur fiel merklich, woran Tia erkannte, dass sie den aufgeheizten Vortragssaal verließ und ins Foyer der Stadthalle hinaustrat. Auch der Geruch veränderte sich: Frisch gefeudeltes Parkett trat an die Stelle der bunten Ausdünstungen menschlicher Körper. Ein kühler Luftzug verriet, dass die Schwingtür zur Straße aufgestoßen wurde.
«Vorsicht, Stufe»,
Weitere Kostenlose Bücher