Das gefrorene Licht. Island-Krimi
nichts anderes übrig. Sie war froh, dass das Gepäck nicht schwer war, obwohl sie, wie immer, viel zu viel mitgenommen hatte. Dóra folgte dem Mädchen durch einen langen Flur, der aufgrund des durch die Dachfenster fallenden Lichts breiter wirkte, als er eigentlich war. Die Abendsonne beschien das dünne blonde Haar des Mädchens. »Ist bestimmt nett, hier zu arbeiten«, meinte Dóra, nur um etwas zu sagen.
»Nee«, antwortete das Mädchen, ohne aufzuschauen. »Ich bin auf der Suche nach einem neuen Job. Aber es gibt nichts.«
»Oh«, sagte Dóra. Sie hatte nicht mit einer so offenen Antwort gerechnet. »Liegt es an den Kollegen?«
Das Mädchen drehte sich kurz um, ohne seinen Schritt zu verlangsamen. »Ja und nein. Die meisten sind in Ordnung. Ein paar sind furchtbar langweilig.« Das Mädchen blieb vor einer Tür stehen, fischte eine Plastikkarte aus der Tasche und öffnete die Zimmertür. »Ich bin da vielleicht kein guter Maßstab. Ich hab nicht besonders viel übrig für diesen Mist, den sie den Gästen hier aufdrängen.«
Dieses Mädchen war nicht gerade die geborene Servicekraft. »Und deshalb willst du aufhören?«
»Nee, nicht direkt«, antwortete das Mädchen und ließ Dóra den Vortritt. »Es ist etwas anderes. Ich kann das nicht genau erklären. Das ist ein schlechter Ort.«
Dóra war schon über die Türschwelle getreten und konnte das Gesicht des Mädchens nicht sehen. Ihr war nicht klar, ob sie das ernst meinte, aber ihre Stimme klang so. Dóra schaute sich in dem hübschen Zimmer um und trat an die große Fensterfront mit Blick aufs Meer. Davor befand sich eine kleine Sonnenterrasse. »Inwiefern schlecht?«, fragte sie und drehte sich zu dem Mädchen. Der Ausblick jedenfalls – das Blitzen der sich kräuselnden Wellen und der idyllische Strand – war alles andere als schlecht.
Das Zimmermädchen zuckte die Achseln. »Einfach schlecht. Das war schon immer ein schlechter Ort. Das wissen alle.«
Dóra hob die Augenbrauen. »Das wissen alle? Wen meinst du damit?« Wenn der Ort einen schlechten Ruf hatte, von dem die Grundstücksverkäufer wussten, den sie aber nicht erwähnt hatten, hätte sie vielleicht eine Grundlage für ein Verfahren.
Das Mädchen schaute Dóra an, wie es nur genervte Teenager tun können. »Alle eben. Jedenfalls alle hier in der Gegend.«
Dóra musste lächeln. Sie hatte keine Ahnung, wie viele Einwohner es an der Südküste von Snæfellsnes gab, wusste jedoch, dass das Wort
alle
in diesem Zusammenhang maßlos übertrieben war. »Und
was
wissen alle?«
Das Mädchen wurde auf einmal unruhig. Sie steckte die Hände in die Taschen ihrer viel zu großen Jeans und musterte ihre Zehen. »Ich muss mich beeilen. Ich sollte nicht mit dir darüber reden.« Sie drehte sich auf dem Fuße um und wollte hinaus auf den Flur. »Später vielleicht.« Im Türrahmen blieb sie stehen und schaute Dóra flehend an. »Bitte sag Jónas nicht, dass ich darüber geredet hab. Er will nicht, dass ich mich mit den Gästen unterhalte.« Sie knetete ihre linke Hand zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten. »Wenn ich einen neuen Job will, brauche ich ein gutes Zeugnis. Ich würde gerne in einem Hotel in Reykjavík arbeiten.«
»Mach dir keine Sorgen. Ich bin kein normaler Gast. Ich sage Jónas, dass du sehr hilfsbereit warst, und lasse mir von ihm die Erlaubnis geben, in aller Ruhe mit dir zu reden. Ich bin in Jónas’ Auftrag hier, um Nachforschungen anzustellen. Ich glaube, du kannst mir – und damit auch ihm – dabei helfen.« Dóra blinzelte das Mädchen an, das ihr einen skeptischen Blick zuwarf. »Wie heißt du eigentlich?«, fragte Dóra.
»Sóldís«, antwortete das Mädchen. Einen Moment lang stand sie reglos in der Tür, so als wüsste sie nicht, was sie jetzt tun sollte, lächelte dann etwas traurig, grüßte und ging.
Bergur Ketilsson ließ sich Zeit. Obwohl er wusste, dass seine Frau mit dem Abendkaffee auf ihn wartete. Er wollte den Abend lieber draußen in der Natur verbringen, als mit ihr zu Hause bei beklemmendem Schweigen Eheglück zu heucheln. Er stöhnte bei dem Gedanken. Sie führten seit zwanzig Jahren eine Ehe, einigermaßen friedlich und einträchtig, aber nie sehr leidenschaftlich, noch nicht einmal während der kurzen Verlobungszeit. Sie waren beide nicht so; sie schon gar nicht. Er hatte hingegen vor kurzem entdeckt, dass er durchaus leidenschaftlich sein konnte. Ziemlich spät, mit vierzig. Sein Leben wäre sicher anders verlaufen, wenn er es entdeckt hätte,
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