Das Gegenteil von Schokolade - Roman
das Herz seines Opfers schlagen zu hören glaubt. Unter den Dielenbrettern, wo er die Leiche versteckt hat. Dort bummert der Herzschlag immer lauter und lauter, bis der Mörder es schließlich nicht mehr aushält und gesteht.
Gestehen.
Was denn? Dass ich zum Schwof gerast bin, weil ich dachte, Emma warte dort auf mich?
»Ehrlich gesagt, nicht, nein«, beginne ich langsam. Die Vorstellung, von Emma zu erzählen, kommt mir abstrus vor. Ich kenne Antonie doch gar nicht. Wie könnte ich ihr von Emma erzählen?
Für eine Sekunde bin ich selbst irritiert. War es nicht die gleiche Argumentation, die ich mir selber gab, als ich auch Emma nicht von meinen Begegnungen mit Antonie erzählte?
»Dachte ich mir«, sagt Antonie und rutscht nach vorn auf die Sofakante. »Wo ist denn dein Ort für kleine Tierarzthelferinnen?«
Bis ich begriffen habe, dass das für mich pikante Thema bereits wieder beendet ist, habe ich schon in die Richtung gedeutet, und Antonie ist hinter der weißen Tür verschwunden.
Der Platz neben mir auf dem Sofa ist warm, wenn ich meine Hand darauf lege. Und ich lege sie hin. Berühre die Wärme. Wie ich in meinen Träumen Haut berührt habe. Aber das ist unmöglich. Nicht im realen Leben. Obwohl mir jetzt gerade, zum ersten Mal, der Gedanke kommt, dass Antonie heute Abend aus diesem Grund hier sein könnte: wegen Berührungen.
Die Badtür geht, und ich klimpere einmal mit den Augen. Im Vorbeigehen nimmt Antonie das Buch auf, das immer noch auf dem Couchtisch liegt. Eben das, das Katja und mich zu unserer heißen Diskussion geführt hat. Im Gegensatz zu Katja schaut Antonie das Buch aber nur kurz an und legt es dann wieder hin. Sie setzt sich. Weiter weg als vorher. Nicht genau zurück auf die warme Stelle neben mir, die auszukühlen beginnt, seit ich zeitgleich mit Öffnen der Badtür meine Hand fortgenommen habe.
»›Von der Umkehr der Endgültigkeit‹. Hm, was ist das?«, fragt sie. Jeder andere Mensch hätte den Klappentext gelesen und einmal kurz in das Buch hineingespienst. Aber sie nicht. Sie schaut sich den Titel an, fragt, worum es geht, und legt das Buch zur Seite.
Ich überlege einen Augenblick, eine kleine Lüge zu erfinden. Allen Ernstes spiele ich mit dem Gedanken, ihr zu erzählen, dass es sich um einen Krimi handelt. Es wäre puppeneinfach für mich, rasch eine Handlung zusammenzustückeln aus den fünfhundert Kriminalromanen, die ich mittlerweile bestimmt gelesen habe.
Ich könnte ihr eine spannende Story präsentieren, ihr ein paar Lösungsvorschläge servieren, um den Eindruck zu erwecken, dass das Entschlüsseln von Rätseln momentan mein bevorzugter Zeitvertreib ist. Vielleicht würde der Abend dann einen ganz anderen Verlauf nehmen. Berührungen hätten da bestimmt keinen Platz. Und dieser Gedanke gibt den Ausschlag dafür, dass ich sage: »Ist eine Liebesgeschichte. Aber keine Nullachtfuffzehn. Das Besondere an dem Buch ist, dass es nicht da beginnt, wo zwei sich kennen lernen, und da endet, wo sie endlich zueinander gefunden haben. Sondern das Buch beginnt an einer anderen Stelle, nämlich da, wo beide sich in ihrer Beziehung sicher und rundherum wohl fühlen. Aber dann …«
»Dann?«
Ich antworte ihr nicht. Schließlich habe ich die Geschichte noch nicht zu Ende gelesen. Aber eine vage Ahnung beschleicht mich, dass sich zwischen diesen beiden Buchdeckeln hier wahrscheinlich etwas viel Komplizierteres als die Auflösung eines Mordes befindet. Wahrscheinlich ist zwischen ihnen das größte aller Rätsel überhaupt versteckt.
»Na ja, jedenfalls«, nimmt Antonie unser Gespräch wieder auf und schafft es, damit mein Schweigen wie eine leise Antwort zu behandeln, »wenn sie am Ende des Buches immer noch zusammen sind und sogar glücklich – das ist wichtig – , dann würde ich es mir gerne mal ausleihen, wenn ich darf.«
Ich kann immer noch nichts sagen.
Ein Gummistopfen sitzt in meinem Hals. Von dem ich zwar wusste, dass es ihn gibt, aber nicht, dass er so riesig ist. So gewaltig, dass kein Ton an ihm vorbeikommt.
Aber sie sagt auch nichts.
Wir sitzen hier, halten uns an den Teetassen fest und starren in die Ecken meines Wohnzimmers. Bald wird es Winter sein. Bald beginnt ein neues Jahr. Und ich habe immer noch das Gefühl, am Ende angekommen zu sein. Am Ende von irgendwas. Ohne den neuen Anfang zu erkennen.
»Weißt du, was mir tierisch auf den Wecker geht?«, platze ich plötzlich heraus.
Antonie tut so, als sei mein Ausbruch nicht weiter ungewöhnlich, und sieht
Weitere Kostenlose Bücher