Das Gegenteil von Schokolade - Roman
Mikrowelle.
»Auch was davon?«
Ich halte mein halb aufgezehrtes Brötchen in die Höhe und lasse mich auf einen Stuhl plumpsen.
»Du wirst es nicht glauben, aber ich bin gerade dahinter gekommen, was es ist!«, teile ich ihr mit.
»Was was ist?«, forscht Michelin nach.
»Dieses Gefühl, du weißt schon.« Ich tippe auf meinen Magen. »Seit gestern Abend … also, wie soll ich sagen …«
»Sag es einfach, Frauke!« Michelin sticht mit der Gabel in die Lasagne, und ein kleines Wölkchen Tomatensoßennebel stiebt unter der Nudelschicht hervor.
»Also, die Sache ist die: Ich fühle mich wie ein Teenager!« Ich habe immer noch diese beiden Mädchen unten auf der Straße vor Augen. »Und zwar wie ein verknallter Teenager.«
Mehr sage ich nicht. Wahrscheinlich muss das jetzt erst mal sacken.
Aber Michelin pustet nur ungerührt auf ihre Gabel und meint: »Aber das ist doch super!«
»Super?«, wiederhole ich dumpf. »Du findest es super, dass ich Schmetterlinge im Bauch habe wegen einer Frau – wenn es überhaupt eine ist –, die im Internetchat Rilke-Gedichte rezitiert und ungefragte Ratschläge über Nachtangst und Alleinsein parat hat?«
»Wieso denn nicht?«, kontert Michelin scheinbar gelassen. Aber ich kann ihr ansehen, dass sie meine neue Erkenntnis auch spannend findet. Ich wette, dass sie sie nachher als Allererstes Angela berichtet.
Wieso denn nicht?
Weil Silbermond eine Frau ist?
Weil ich eine Frau bin?
Weil?
Ich so was nicht mehr erlebt habe, seit ich … wie alt war ich da? … dreizehn oder so war und für meine Schulfreundin Hetti gestorben wäre. Weil ihre Haare immer nach Vanille dufteten und sie die süßeste Nase der Klasse hatte (und wahrscheinlich noch darüber hinaus) und weil sie mit Wasserfarben Bilder malen konnte, die aussahen wie Fotos. Wann hat das eigentlich aufgehört? Als ich dann beim Judo Steffen kennen lernte? Aber könnte es nicht sein, dass das später, als ich mit sechzehn in diesen Gitarrenkurs ging, das mit Anne, dass das so in etwa das Gleiche war?
»Tu bloß nicht so abgeklärt«, meckere ich Michelin an. »Du kennst mich doch jetzt wirklich lange und gut. Du weißt doch bestimmt, wie mich so was aus dem Gleichgewicht wirft.«
Michelin legt ihre Gabel hin und sieht mich ernst an.
»Ich kanns mir zumindest vorstellen. Aber es würde für dich doch nicht leichter, wenn ich die Hände über dem Kopf zusammenschlage und rufe: ›Frauke, um Gottes willen, pass auf, was du tust!‹«
»Aber du kannst mir doch zumindest sagen, was du darüber denkst.«
»Du willst wissen, was ich darüber denke? Ich finde das klasse! Ich sehe, dass es dich in Schwung bringt. Es setzt dich in Bewegung, wo du vorher gelähmt dagehockt hast. Mach doch einfach mit! Was hält dich denn zurück?«
Ich sehe verlegen auf meine Hände. Meine Nägel sind nicht besonders lang, aber immer gefeilt und meistens auch lackiert. Heute sind sie hellblau.
»Lackiert ihr euch eigentlich auch mal die Fingernägel?«, frage ich zögerlich.
Michelin sieht mich an, als seien etwaige Zweifel an meinem Verstand nun endgültig bestätigt.
»Wie meinen?«
»Die Fingernägel«, wiederhole ich dumpf. Jetzt hab ich mich wahrscheinlich ins Fettnäpfchen gesetzt. Ich habe da so eine Ahnung von einer kleinen Blamage, die begründet sein wird auf schrecklich dummen Vorurteilen. »Lackiert ihr sie euch auch manchmal? Deine Nägel sind immer ganz kurz, und du benutzt nie so was.«
»Wen meinst du denn in drei Teufels Namen mit ›ihr‹?«, erwidert Michelin.
Einen Augenblick sehen wir uns an, und in der Kluft, die in gewisser Hinsicht zwischen uns klafft, pfeift ein frisches Windchen.
»Lesben«, bringe ich schließlich raus.
Michelin reißt die Augen auf. Sie werden so groß, wie früher die Fünfmarkstücke waren. Und dann grölt sie los.
Weil sie eine unglaublich ansteckende Lache hat, muss ich mitlachen, und so prusten wir beide minutenlang hinter unseren Schreibtischen.
»Entschuldige«, gackert sie schließlich.
»Nee, schon okay«, kichere ich. Und da wird mir erst bewusst, dass ich gar nicht weiß, wieso Michelin in so einen Heiterkeitsanfall ausgebrochen ist. Das ernüchtert mich schlagartig.
»War das jetzt eine doofe Frage?«
Michelin seufzt. »Nein, aber … doch … eigentlich schon. Ich habe mich nur gerade gefragt, wie es kommt, dass du immer noch so viele Vorurteile im Kopf hast. Du kennst doch jetzt fast alle meine Freundinnen. Du weißt, wie unterschiedlich sie sind. Und trotzdem
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