Das geheime Bild
Engländer für dieses englische Mädchen zu sein.
Susan war rastlos. Erhob sich von der Chaiselongue. Wanderte umher. Betastete die narbige Wand in der Eingangshalle. Jemand hatte versucht, die obszönen Gemälde zu überstreichen, die von den GIs zurückgelassen worden waren, aber die Farbe, die sie verwendet hatten, war viel zu dünn und wässerig. Noch immer konnte er die Umrisse überdimensionierter weiblicher Körperteile und die dazugehörigen Kommentare erkennen. Sein Englisch war jetzt gut genug, um über Letztere grinsen zu können. Dort, wo die Soldaten mit ihren Dartpfeilen das Brett verfehlt hatten, war die Wandoberfläche pockennarbig.
Er studierte das auf die Wand fallende Licht. Es dürfte fast konstant sein, da es sowohl durch die Fenster auf halber Treppenhöhe wie auch durch Fenster einfiel, die zum Garten hinausführten. Im Moment schien die Wand in ihrem schmutzigen Weiß die Hoffnungslosigkeit von Susans Lage zu spiegeln.
»Du brauchst hier im Eingangsbereich etwas«, sagte er. »Ein Zeichen für einen Neuanfang. Ein Wandgemälde.« Die Idee nahm in seinem Geiste Gestalt an. »Du musst den richtigen Ton für deine neue Schule festlegen.«
Sie blinzelte. »Ich habe mich noch gar nicht entschieden, eine neue Schule aufzubauen.«
Er lächelte.
»Du verstehst das nicht.«
»Du möchtest dein Haus nicht verkaufen. Was willst du sonst mit diesem Anwesen hier machen?«
Sie war noch immer unsicher.
»Du solltest auf jeden Fall diese Wand in Ordnung bringen.«
»Mir gefällt die Idee eines Wandgemäldes. Würdest du es für mich malen?«
Er überlegte. In den letzten Jahren hatte er nicht viel gemalt. Abgesehen von einem Praktikum an einer Grundschule hatte er nichts mehr mit Kunst zu tun gehabt, und da war es vielmehr darum gegangen zu verhindern, dass die Farbe zu Boden und auf die Kleidung tropfte und ein Teil davon aufs Papier kam.
»Ja. Aber dazu brauche ich dich«, sagte er.
»Du willst mich auf dem Wandgemälde haben?«
Er ging auf sie zu und musterte sie von oben bis unten, als wollte er ein Stillleben malen. »Aber nicht in diesem Kleid.« Wenn sie eine neue Schule leiten wollte, musste sie auch dementsprechend aussehen. An diesem Tag trug sie ein Sommerkleid mit schmalen Trägern. Ihre Haltung war sehr aufrecht, sehr korrekt. Dass sie die Tochter des Hauses war, konnte man nicht übersehen, aber das Gewand war falsch. »Hast du denn etwas anderes, was du anziehen könntest?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich richte mich nicht besonders her.« Warum sollte sie auch. Es war 1973. Keine junge und idealistische Lehrerin trug formale Kleidung vom Schneider.
»Gibt es hier im Haus irgendwelche anderen Kleidungsstücke?« Er stellte sie sich in etwas Langem vor, mit zurückgebundenen Haaren. Nicht zu steif, aber würdevoll.
»Auf einem der Dachböden steht eine alte Truhe«, meinte sie zweifelnd.
»Sollen wir nachsehen?« Beflügelt von seiner Idee sprang er schon die drei Treppen nach oben. Er würde sie selbst mit dem Haus als Hintergrund an diese Wand malen.
Auf dem Dachboden fanden sie Kleider aus sämtlichen Epochen bis zurück in die viktorianische Zeit. »Die sind alle so muffig und von Motten zerfressen.«
Er hielt ein blaues Abendkleid aus Samt in die Höhe, das aussah, als wäre es zuletzt vor dem Ersten Weltkrieg getragen worden. Vielleicht war es auch überhaupt nie getragen worden. Karel musste an eine junge Frau denken, die sich für einen Tanzabend ein Kleid bestellte, dann aber erfuhr, dass ihr Bruder oder Verlobter in den Schützengräben umgekommen war. Weil sie das Kleid daraufhin nicht mehr sehen wollte, befahl sie dem Mädchen, es wegzupacken. »Das wäre das Richtige für dich.«
Susan sah nicht auf das Kleid, sie sah ihn an.
»Was ist denn?«
»Du hast so rasch und so gut Englisch sprechen gelernt. Wie lange ist das jetzt her?«
»Fünf Jahre, seit ich nach England kam.«
»Dein Akzent wird immer besser.«
»Ich arbeite damit.«
»Da ran .« Sie korrigierte ihn beiläufig. Er belauschte Gespräche in Pubs, in Zügen und auf den Schulkorridoren. Nachts übte er dann, die Muskeln seines Mundes in die merkwürdigen Positionen zu bringen, die das Englische erforderte. Immer und immer wieder wiederholte er die Aussprache.
»Mit Milch und ohne Zucker bitte. Fast gut. Rückfahrkarte nach Paddington. Ein Pfund auf Nummer Fünf im Rennen um drei Uhr dreißig.«
Susan betrachtete nun das seidig glänzende Kleid. »Es müsste passen.«
»Zieh es an und komm
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