Das geheime Bild
strich sich ihre feuchten Fransen aus der Stirn. »Möchtest du nicht ein wenig schlafen? Ich könnte dir ein Bett herrichten.« Eine Pause. »Aber du kannst auch bei mir schlafen, wenn du möchtest?« Es schien die natürlichste Frage der Welt zu sein. Er hatte noch nicht mit ihr geschlafen. Seine Haut prickelte erwartungsvoll.
»Ich würde gern mit dir schlafen«, erwiderte er auf seine unverblümte, zentraleuropäische Art. Sein Körper pulsierte beim Gedanken an ihre schlanke Gestalt, die sich an seine schmiegte. »Ich werde gleich hochkommen.« Dabei strich er mit seinem Finger über ihre weiche Wange. Sie verströmte den Duft eines warmen, reinlichen Mädchens. Der Duft der anderen war weitaus gefährlicher gewesen: kochender Zucker oder Gewürze. »Ich möchte nur noch den Entwurf für morgen zu Ende bringen.«
Der einen Moment lang in ihrem Gesicht gespiegelte Zweifel flackerte nur so kurz auf, dass er ihn kaum wahrnahm. Sie fand ihn nicht anziehend. Nein, das war es nicht. Sie schien sich zu fragen, warum dieses Wandgemälde so wichtig war, wo doch das ganze Haus nach Aufmerksamkeit schrie. Und wenn es ihnen ernst war, es in eine Schule zu verwandeln, dann mussten sie über Lehrpersonal, Ausstattung, Bücher sprechen. Wie sollte er ihr erklären, warum das Gemälde so wichtig war?
»Für mich ist es so etwas wie, wie heißt das Wort? Ein Emblem. Ein Symbol für einen Neuanfang.«
Ihr Ausdruck schien sich zu verändern. Sie nickte. »Ich warte auf dich, Charlie.«
Charlie . Er hörte das spöttische Lachen des anderen Mädchens. Du bist nicht Charlie. Du bist noch immer Karel. Und du wirst nie Engländer sein .
Um es zu vertreiben, kehrte er in die Küche zurück und fand dort den Rest des Chianti, den sie zu ihren Omeletts getrunken hatten. Die Wand war jetzt fast trocken, die letzten feuchten Stellen verblassten. Farbe beim Trocknen zuzusehen hatte schon immer eine beruhigende Wirkung auf Karel gehabt, egal was die Leute sagten. Die Standuhr in der Ecke schlug Mitternacht. Oben war alles still. Er schob seine Hand in seine Hosentasche und holte drei Münzen heraus. Es waren wertvolle Münzen. Das jedenfalls hatte der Sammler aus der Charing Cross Road ihm versichert. Er hätte sie verkaufen können, aber für ihn waren sie Glücksbringer. Er klimperte mit ihnen in seiner Hand und schob sie in seine Tasche zurück. Durch die noch immer geöffnete Eingangstür kam der Duft von Vieh und Rosen aus dem zugewucherten Garten. Seine Augen ruhten auf der leeren Wand. Wie von selbst malten sich Bilder auf die jungfräuliche Oberfläche. Keine Susan mit ihrem blassen englischen Gesicht. Ein anderes Mädchen. Kastanienbraunes Haar. Haselnussbraune Augen. Zeichne mich , forderte es ihn auf. Seine Hände bewegten sich, mischten Farben, wählten Pinsel aus. Dann stand er vor der Wand.
Jeder Strich und Tupfer des Pinsels auf der weißen Oberfläche brachte Leben in sie. Zuerst der Umriss ihres schlanken Körpers, dann die Masse ihres rötlich braunen Haars, das Rosa ihrer Lippen. Er konnte sie seufzen hören. Bei ihrem Gesicht ließ Karel sich Zeit. Diese Augen, dieser volle Mund, das einzufangen war schwer. Er trat ein paar Minuten lang zurück, bis er sie vor sich sah. Der Rest war leicht: Sie hätte dort stehen können, sich ihm darbieten, ihn ermutigen. Ihr Gesicht war jetzt vollständig. Jetzt wollte er den Druck ihrer Tunika malen. Aber dieser war kompliziert, es war ein von ihr entworfener Handdruck. Er zermarterte sich den Kopf nach den Einzelheiten des Musters und glaubte, sich zu erinnern. Über ihm, irgendwo im Schlafzimmer mit seinem Himmelbett, wartete Susan darauf, dass er zu ihr kam. Aber wie konnte er das, wenn dieses andere Mädchen so dicht vor ihm stand, dass er fast seinen Atem auf seiner Haut und die seidige Berührung seines Haars auf seiner Brust spürte, seine Stimme, die murmelnd mit ihm sprach? Es zog ihn zu ihm zurück, und wieder griff er nach dem Pinsel.
Alles geschah ganz schnell. Noch nie hatte er so schnell gearbeitet. Es war, als hätte er, ohne es zu bemerken, an diesem Bild in seinem Kopf gearbeitet, lange bevor er Susan vorgeschlagen hatte, ein Wandgemälde zu malen.
Die Jahre, die sie getrennt waren, bedeuteten nichts. Draußen im Garten schrie eine Eule und warnte ihn, dass diese Sommernächte kurz waren – er musste sich beeilen. Schließlich spürte er, wie er aus seiner Trance erwachte. Mit dem Auge eines Kritikers betrachtete er sein Werk. Vielleicht das beste, was er je
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