Das geheime Bild
Nähkörbchen und ihrem Gemüsegarten. Und zu meinem Vater mit seiner zwanghaften Sorge um die Schule und die Schüler. All dies hatte auf mich gewartet und mich in stiller Akzeptanz willkommen geheißen.
Ich wusste von Hughs Mutter, dass er jetzt für sich allein in einer kleinen Wohnung in der Nähe des Rehazentrums lebte und hart trainierte, um sein Bein mit der neuen Beinprothese zu kräftigen. Er hatte noch immer vor, an Weihnachten in den Skiurlaub zu fahren. »Vielleicht kehrt was von dem alten Hugh zurück, wenn er in die Alpen fährt«, meinte sie mit brechender Stimme. Mir war, als würde mein Herz statt Blut Säure durch meine Venen pumpen. Gut möglich, dass Hugh auch seine Mutter nicht zu weiteren Besuchen ermuntert hatte. Aber wenigstens hatte er ihr nicht gesagt, sie solle sich von ihm fernhalten. Jedes Mal, wenn Post kam, rechnete ich mit einem großen weißen Umschlag einer Anwaltskanzlei und der Mitteilung, dass mein Mann die Scheidung wolle.
Ich musste einen klaren Kopf bekommen. Ich war ins Heim meiner Familie zurückgekehrt, umgeben von Hunderten von Kindern und zwei Dutzend Lehrern. Das konnte man kaum als Verbannung in eine Einsiedlerklause bezeichnen. Aber seit dem Tod meiner Mutter war es in Letchford sehr einsam.
Meine Mutter dürfte sich ebenfalls sehr allein gefühlt haben, als ihre Eltern gestorben waren und sie das große Haus mit seinem riesigen Grundstück geerbt hatte.
Nach ihrer Beerdigung, nachdem alle Gäste das Haus verlassen hatten, waren Clara und ich nach unten gegangen und hatten uns vor das Wandbild gestellt und ihr Konterfei betrachtet. Vater hatte sie noch ein zweites Mal in all ihrer Pracht gemalt und damit die andere Frau, die durch meinen Einsatz von Harpic zum Vorschein gekommen war, verschwinden lassen. Wieder stellte ich mir die Frage nach der Identität dieser Frau, aber heute war nicht der richtige Tag, um über sie nachzudenken. Soll sie doch unter dem strahlenden Bildnis meiner Mutter begraben sein.
»Mum war stark.« Clara sagte dies voller Stolz. »Stark genug, um sich zur Lehrerin ausbilden zu lassen und sich mit all ihrer Kraft dafür einzusetzen, diese Schule ins Leben zu rufen, damit sie ihr Elternhaus behalten konnte.« Mum war ein Mädchen aus gutem Hause, dazu erzogen, sich zu schmücken und auf die Jagd zu gehen. Aber sie wählte einen anderen Weg.
»Sie hatte Unterstützung von Dad.« Die Schule aufzubauen war eigentlich seine Idee gewesen. Das hatte sie uns jedenfalls immer erzählt.
Sie hatten sich auf dem Lehrerkolleg kennengelernt. Beide waren jung und brannten darauf, in der Pädagogik neue Wege zu gehen. Ich hätte in diesem Alter nicht die Selbstsicherheit gehabt, mir ein derart hohes Ziel zu stecken. Meine Mutter bekam ihr Lehrerdiplom und unterrichtete ein paar Jahre lang an einer Mädchenschule in Bristol. Mein Vater hatte in London unterrichtet. Ihre Freundschaft hätte sich womöglich im Sande verlaufen, wenn sie sich nicht zufällig in einem Buchladen an der Charing Cross Road in London wiederbegegnet wären. Da erzählte sie ihm von dem alten Familienbesitz, den sie geerbt hatte. »Er ist mehrere Hundert Jahre alt und bröckelt vor sich hin«, hatte sie erzählt. »Ein Pflegeheim hat mir ein Angebot gemacht, aber ich weiß nicht recht. Ich weiß nicht, was ich tun soll.«
Belustigt erzählte sie mir diese Geschichte. »Dein Vater meinte, man könne eine gute Schule daraus machen, Merry. Was müssen wir für naive Trottel gewesen sein. Gerade mal in den Zwanzigern und glaubten, wir wüssten genug, um eine Schule zu gründen. Heutzutage bekäme man die Erlaubnis gar nicht mehr.«
»Bedauerst du denn manchmal, dass du es getan hast?«, fragte ich sie nur wenige Wochen vor ihrem Tod.
Sie hatte ihren Blick an mir vorbei zur Eingangstür gerichtet, die in den Garten und ins Gelände hinausführte. »Es wäre alles weg, wenn es keine Schule geworden wäre. Aber vielleicht wäre unser Familienleben einfacher gewesen, Merry. Wir wären nicht ständig so auf dem Präsentierteller gewesen.«
Darüber hatte ich einige Zeit nachgedacht. Eine Familie durchbringen und eine Ehe führen, das alles unter den prüfenden Blicken von dreihundert Paar jungen Augen, dazu noch die der Lehrer. Leicht konnte es nicht gewesen sein. Vielleicht hatte sie es bereut. Zugegeben hätte sie das allerdings nie, aber es beschäftigte mich. Wenn mein Vater sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, ließ er sich nur schwer davon abbringen.
»Manchmal denke ich, das
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