Das geheime Bild
Tag an einer neuen Schule, und ich kam zu spät. Ich hatte gedacht, ich würde Englisch unterrichten, aber man teilte mir mit, ich müsse Physik geben, ein Fach, für das ich nicht qualifiziert war und das ich während meiner Schulzeit immer gehasst hatte. Ich bekam die Nummer eines Klassenzimmers genannt und wurde aufgefordert, mich zu beeilen, da die Kinder bereits warteten. Während ich den Flur entlanglief, merkte ich, dass die Klassenzimmertüren aus glattem graue m Metall waren und ohne Fenster, sie machten einen kalten, hygienischen Eindruck.
Ich befand mich in einem Leichenschauhaus. Es lag ein entsetzlicher Irrtum vor: Hugh war nicht tot, es war meine Mutter, die gestorben war, aber man hatte die Körper vertauscht. Wenn ich ihn nicht rechtzeitig fand, würden sie meinen Mann lebendig begraben. Schweißperlen standen auf meiner Stirn. Ich riss eine Tür nach der anderen auf, um Hugh zu finden. Aber sämtliche Räume waren leer, bis auf den allerletzten, worin ein junges Mädchen stand, das eine kurze violette Tunika trug.
»Er ist nicht tot.« Ich versuchte zu erklären, wieso ich das wusste. »Bitte sag mir, wo er ist, damit ich ihn retten kann.«
Ich schien sie nicht überzeugt zu haben. »Wenn er nicht tot ist, warum sind Sie dann nicht an seinem Bett?«
Ich konnte unmöglich erklären, warum mein Ehemann mich weggeschickt hatte, dass ich ihm nicht nützlich sein konnte.
»Sie haben ihn gehen lassen, nicht wahr?« Sie sah mich voller Verachtung an.
»Ich wollte es nicht.«
»Warum haben Sie zugelassen, dass man mich wieder versteckte?«, fragte sie. »Es hat mir gefallen, dass man mich wieder ansah.«
Ich wusste nicht, was sie meinte.
Da war ich aufgewacht und hatte mich erleichtert ausgestreckt und dem Vogelgesang gelauscht.
Auf meinem Weg zum Unterricht lief ich durch die Haupthalle und traf Emily vor dem Wandgemälde an. Sie hatte heute ihre langen Haare zu einem geraden, tiefen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr Gesicht zeigte keine Spur von Make-up. Wieder bewunderte ich ihre weiße Porzellanhaut. Sie musterte den Gips, der während der Restaurierung bemalt worden war. Mit einem Finger strich sie die Kontur meiner Mutter als junger Frau nach. Meine Eltern waren beide stolz, dass es meinem Vater gelungen war, sie so zu restaurieren, als wäre ihr Bild nie abgekratzt worden, aber Emily schien nach Hinweisen Ausschau zu halten, was sich darunter verbarg. »Sie ist wunderschön gemalt, nicht wahr?« Ich war mir meines herausfordernden Tons bewusst.
Sie drehte sich ganz langsam zu mir um. »Nur wenn man die Farbschicht berührt, bekommt man ein Gefühl dafür, dass sich noch etwas anderes darunter befindet.« Um ihre Behauptung zu stützen, strich sie mit ihren Fingern über das Bild meiner Mutter. Ihre Fingernägel waren abgebissen, wie ich sah. »Hat jemand es mutwillig beschädigt, Meredith?«
Ich hätte darauf erwidern können, dass eine höfliche Aufforderung an der Wand neben dem Gemälde die Leute bat, es nicht zu berühren, da es schlecht für die Farbe war, aber der Ausdruck in Emilys blassen Augen hielt mich davon ab.
»Es musste restauriert werden. Ein Teil der Oberfläche war beschädigt worden.« Wäre der Verursacher ein anderer gewesen, hätte ich vielleicht mehr gesagt. Es gab nur sehr wenige Menschen, die darüber Bescheid wussten, dass das Wandgemälde vor zwanzig Jahren beschädigt worden war und auf welche Weise. Dad hatte es so schnell wieder repariert. Emily konnte unmöglich wissen, was sich unter der Farbe befand. Ich sagte nichts. Jahrzehntealte Scham hielt mich davon ab, Emily meine Rolle an der Beschädigung des Gemäldes zu gestehen.
»Ihr Vater war offenbar ein ziemlich talentierter Maler«, fuhr sie fort, die blauen Augen unverwandt auf mein Gesicht gerichtet. »Er war auf der Kunsthochschule in Prag, oder? Und hat dann zu malen aufgehört.«
»Die Schule hat ihn immer mehr in Beschlag genommen.« Ich ließ unerwähnt, dass er seine Leidenschaft für die Kunst meiner Vermutung nach schon vorher verloren hatte.
»Er hat aufgehört«, wiederholte sie. Dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf mich. »Was ist mit Ihnen? Malen Sie, Meredith? Sind Sie künstlerisch begabt?«
Dies schien mir für einen zeitigen Schulmorgen inmitten trödelnder und plaudernder Schüler, die auf dem Weg in ihre Klassenzimmer waren, eine merkwürdige Konversation zu sein, aber die Intensität, mit der sie mich ansah, fesselte mich.
»Ich habe es stümperhaft mit Wasserfarben
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