Das geheime Bild
versucht, habe aber keinen Pinsel und keinen Stift mehr zur Hand genommen, seit …« Ich schluckte. Hugh und ich. Hugh, der nach einer chaotischen Nacht im Kasino auf dem Sofa eingeschlafen war: mit geöffnetem Mund. Ich, die ihn so zerzaust, wie er war, mit dem Bleistift auf die Rückseite eines alten Umschlags zeichnete. Und er, der am nächsten Morgen die Luft anhielt, als er die wenig schmeichelhafte Skizze entdeckte, das Kissen, das er auf mich warf, das Kissen, das ich zurückschleuderte, das Gelächter, der um uns beide springende und uns anbellende Hund. Ich zog im Geiste einen Wandschirm vor das Bild. »Meine Schwester malte früher leidenschaftlich«, fuhr ich fort. » Sie war auch bildhauerisch sehr talentiert.« Die Leute waren von Claras Abschlussarbeit begeistert gewesen. Für eine ihrer Arbeiten hatte sie sogar einen Preis bekommen. Mir wollte nicht mehr einfallen, was es gewesen war: keine Skulptur, sondern etwas Gesticktes mit applizierten Tulpen, blutrot vor einem grellblauen Himmel. Selbst mir war es gelungen, meine geschwisterliche Missgunst hintanzustellen und ihr zu sagen, dass es mir gefiel. Dad hatte die Tulpen bei einem teuren Rahmenmacher in Oxford rahmen lassen.
»Ist sie jetzt Künstlerin?«, wollte Emily wissen. Bei jedem anderen hätte diese Frage höfliches Interesse bekundet.
Ich lächelte. »Sie arbeitet für eine Anwaltskanzlei. Ihr Spezialgebiet ist das Arbeitsrecht.« Für Clara war die Kunst ein Hobby, als Studium nicht lohnenswert, weil sie kein regelmäßiges monatliches Einkommen und keine jährliche Ausschüttung garantierte, wie sie einem als Partner einer Kanzlei zustand. Doch das Gekritzel ihrer Kinder hing liebevoll gerahmt an den Wänden ihres Hauses in Clapham.
»Oh.« Emily lächelte nicht. »Ich liebe Stoffe und Textildesign.« Ich erinnerte mich, sie in den Kunsträumen gesehen zu haben, wie sie den jüngeren Schülern beim Filmdruck und beim Batiken half. Da war sie eindeutig in ihrem Element gewesen. »Einige der Kinder sind wirklich sehr talentiert.« Offenbar wollte sie mich damit auffordern nach zuhaken, welche Kinder das waren. Aber die Schulglocke läutete, bevor ich die Frage stellen konnte. »Ich gehe jetzt lieber«, sagte ich. »Wir sehen uns später, Emily.«
Sie hob ihre Hand zum Abschied, eine formale und irgendwie endgültige Geste in Anbetracht der Tatsache, dass ich sie vermutlich in nur wenigen Stunden während der Vormittagspause im Lehrerzimmer wiedersah. Dabei wirkte ihr Gesicht sehr viel ernsthafter, als man das bei einer derart jungen Frau vermuten würde. Sie war gerade einmal neunzehn. Vielleicht hatte sie in Neuseeland ein hartes Leben gehabt, bevor sie zu uns kam, und war deshalb reifer als die meisten Mädchen ihres Alters. Ich betrat mein Klassenzimmer und vergaß, sobald der Unterricht begann, alles, was mit Emily zu tun hatte. Ich kam mir vor wie ein Tischtennisball, der über den Wogen des Lärms und des Tumults hin und her geschlagen wurde, ohne mein eigenes Zutun von der Energie der Kinder und den Erfordernissen des Stundenplans angetrieben.
Zur Pause kam mein Vater ins Lehrerzimmer, wie er das manchmal tat. Er vermied es, allzu oft zu erscheinen, weil sein Auftauchen, wie er meinte, die Lehrer daran hindern würde, Dampf abzulassen, wenn es nötig war.
»Ich vertrete Deutsch in der Abschlussklasse.« Als er mir das sagte, rückte er seine Krawatte zurecht. Er war stolz darauf, noch immer Deutsch zu unterrichten. Ich fragte mich, wie viele Schüler wohl wussten, dass er als Junge deutsch gesprochen hatte. »In der Öffentlichkeit sprachen wir immer tschechisch, aber meine Mutter war mit Deutsch groß geworden, und sie sprach deutsch mit mir«, hatte er mir erzählt. Doch mit uns sprach er weder tschechisch noch deutsch. Selbst Clara und mir gelang es für gewöhnlich, seine perfekten Tweedjacken und Lobb-Schuhe für bare Münze zu nehmen. Und wir empfanden es jedes Mal als Schock, wenn irgendeine Formulierung uns daran erinnerte, dass Englisch nicht seine Muttersprache war. Für diese kleineren Ausrutscher bestrafte er sich mit Kopfschütteln und Entschuldigungen. Es war ihm ungeheuer wichtig, den Eindruck zu vermitteln, ganz und gar nach England zu gehören. Deshalb überraschte es nicht, dass er Direktor eines Internats auf dem Land geworden war. Was konnte für England archetypischer sein? Wenn er gelegentlich deutsch und noch viel seltener tschechisch sprach, schimmerte eine andere Persönlichkeit durch, ein Mann mit einem
Weitere Kostenlose Bücher