Das geheime Bild
ein paar, die er mir geschickt hatte, wenn er zu einem der größeren Stützpunkte zurückkehrte, wo es Computer und Internetverbindung gab. Kann es nicht erwarten, dich zu sehen … Zähle die Stunden … Einige davon wusste ich noch auswendig.
Ich spürte den Pulsschlag an meinem Hals. Ich könnte die Nachrichten löschen, sie aus meinem Leben entfernen, damit ich nie mehr zu ihnen zurückkehren konnte, um mich damit zu quälen. Aber das brachte ich nicht übers Herz – unmöglich. Wie gern würde ich ihm jetzt selbst eine E-Mail schreiben, jetzt in dieser Minute. Ich könnte meinen Stolz hinunterschlucken. Könnte sie sorgfältig formulieren, damit sie nicht allzu bedürftig klang. Eine alberne Anekdote über den Hund oder eine lustige Äußerung oder Tat eines Schülers. Oder vielleicht eine humorvolle Schilderung über die Entdeckung der Reborn-Puppe. Geschichten dieser Art kamen bei Hugh gut an. Wenn er auf Heimaturlaub war, kam es vor, dass wir ganze Abende in der Küche zubrachten und ich ihm meine Schulgeschichten zum Besten geben musste. Nun versuchte ich mir einzureden, dass diese Zeiten endgültig vorbei waren. Doch es funktionierte nicht. Ich musste wissen, wie es ihm ging, wie er mit seinem neuen Bein zurechtkam. Seine Mutter hatte mir erzählt, dass der Schaft der Prothese angepasst werden musste, weil der Stumpf nun weniger geschwollen war.
»Dein Problem ist, dass du nichts und niemanden aufgeben möchtest«, hatte meine Schwester mir erklärt, als sie mich damals im Sommer vom Hof aufgelesen hatte. »Ich bin mir nicht sicher, ob das Halsstarrigkeit oder ein genetisch bedingter neurotischer Tick ist.« Das sagte sie nicht vorwurfsvoll, sondern voller Mitleid. »Manchmal mag es auch ein Zeichen von Stärke sein, Meredith, einfach mal loszulassen und zu akzeptieren, dass du keine Kontrolle über die Menschen hast. Sieh dich an. Du bist ein Wrack.«
»Und du hörst dich an wie ein billiger Ratgeber«, blaffte ich sie an und drückte dabei ein Taschentuch an meine blutende Stirnwunde. »Er ist mein Ehemann. Er ist schwer verletzt. Ich kann ihn nicht loslassen.« Dabei malte ich um das letzte Wort mit den Zeigefingern Anführungszeichen.
Ich begann mit dem Entwurf einer E-Mail an Hugh. Hier herrscht große Aufregung, wir haben ein »falsches« erstochenes Baby in einem Schrank gefunden. Makaber, nicht wahr? Nun spielen wir alle Miss Marple. Und ob du’s glaubst oder nicht, man schiebt mir das »ermordete« Baby in die Schuhe. Im White Oak ist das Essen noch immer anständig, und ich war ein paar Mal mit einigen der Lehrer dort … Die Worte klangen nach erzwungener Fröhlichkeit. Ich konnte die Ausrufungszeichen herauslesen, ohne sie gesetzt zu haben. Wie läuft es in der Reha? Ich hoffe, dein Bein fühlt sich weniger … Fremdartig? Seltsam? Qualvoll? Mein Finger schwebte noch über dem Senden -Button. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. Zeit, wieder ins Schulgebäude zurückzukehren. Ich speicherte die Nachricht unter Entwürfe ab.
Ein Unterrichtsnachmittag, dann würde ich zur Probe von Hexenjagd gehen. Fast war ich erleichtert, dass mir die Entscheidung abgenommen worden war. Ich würde einfach bei Delicious Confections anrufen und dort nachfragen, ob man eine Puppe ausgeliefert und wer dafür bezahlt hatte. Wahrscheinlich würde man zögern, so viel preiszugeben, und sich auf den Datenschutz berufen.
Ich rannte zu meinem Nachmittagsunterricht zurück ins Hauptgebäude. Als um vier Uhr die Glocke läutete, lief ich durch den Garten zur Turnhalle, die zusammen mit den Häusern für die Internatsschüler auf dem Gelände eines alten Hoftrakts erbaut worden war. Mein Vater hatte den Architekten sorgfältig ausgewählt, und viele Vorschläge gingen auf ihn selbst zurück. Obwohl er die Farbe immer jedem anderen Medium vorgezogen hatte, war ihm auch ein gutes Auge für Struktur und Raum eigen. Wie so oft bewunderte ich auch heute wieder die klaren Linien des Gebäudes. Man hatte für den Bau viel Glas und Holz verwendet, dazu den lokalen Oxfordziegel und Cotswoldsteine, was im Zusammenspiel sehr anmutig wirkte: Der Bau verschmolz mit den Bäumen, die ihn umgaben, und reflektierte das irisierende Licht des späten Nachmittags. Sogar die Teenagerjungs, die zum Basketballtraining oder zum Sportunterricht darauf zurannten, hoben manchmal kurz ihre Köpfe, um die aufstrebenden Balken des Gebäudes zu bewundern. Ich musste an den Stress denken, unter dem mein Vater gestanden hatte, als das Bauprogramm
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