Das geheime Bild
Allgemeinen eine glückliche Hand bei ihrer Auswahl. Emily schloss das Nähkörbchen. Oben waren die Initialen N.E.C . eingestickt. Vielleicht hatte es ihrer Mutter gehört. Ich wollte sie gerade fragen, ob sie hier gut zurechtkam, als eins der Mädchen sein Mobiltelefon zu Boden fallen ließ. »Entschuldigung.« Es grinste entschuldigend.
»Bitte lasst eure Telefone während der Proben in euren Taschen. Und schaltet sie aus.« Jenny blickte mit gerunzelter Stirn von ihren Notizen auf. »Wir werden die ersten Szenen durchgehen. Wenn ihr im ersten Akt einen Auftritt habt, müsst ihr hierbleiben. Ansonsten geht ihr rüber zu Emily und lasst für eure Kostüme Maß nehmen.« Sie nahmen schlurfend ihre Plätze ein.
»Erzählt uns alles über eure Rollen«, sagte Jenny zu denjenigen, die vor der Bühne standen. »Fasst sie in ein paar Sätzen zusammen, bevor wir mit dem Lesen anfangen. Lasst uns anfangen mit …«, sie wandte sich an Olivia, »Mary Warren. Wer ist sie?«
»Sie ist ein Dienstmädchen, das für die Hauptfigur arbeitet. Sie wird wie ein dummes kleines Mädchen behandelt, dem man sogar sagt, wann es zu Bett gehen soll.« Olivia hob den Kopf und schien beim Sprechen an Selbstvertrauen zu gewinnen. »Man schubst sie ein bisschen herum. Sie soll den Eindruck erwecken, schwach zu sein. Aber ich denke, sie wird falsch eingeschätzt.«
»Sie sorgt am Ende dafür, dass ich hingerichtet werde.« Der Primaner, der den John Proctor spielte, verschränkte seine Hände vor der Brust. »Weil sie ihre Nerven verliert.«
»Sie ist ein Opfer der männlich dominierten Gesellschaft von Salem im siebzehnten Jahrhundert«, fuhr Olivia fort, ohne auf ihn zu achten. »Warum sollte sie die anderen darin unterstützen, sich selbst zu helfen? Sie schuldet ihnen nichts.« Dabei reckte sie ihr Kinn nach vorn. Innerlich applaudierte ich ihr.
»Ihr habt alle recherchiert«, sagte Jenny. »Gut gemacht, Olivia.«
»Es ist interessant. Die Lektüre hat mir gut gefallen.« Sie errötete.
»Damals hatten die Frauen noch ihren Platz«, warf ein Junge aus der Abschlussklasse ein. Ein anderer rempelte ihn an, und sie lachten beide los.
»Ihr findet wohl, man sollte Frauen noch immer verprügeln.« Olivia klang durchsetzungsfähiger, als ich gedacht hatte.
»Was willst du damit sagen?« Er verschränkte seine Arme. »Glaubst du etwa, ich bin damit einverstanden, wenn Frauen geschlagen werden?«
Jenny hob eine Hand. »Nun, ihr habt euch wirklich alle mit euren Rollen beschäftigt, ganz ausgezeichnet.« Sie warf mir mit überrascht hochgezogenen Brauen einen Blick zu.
Nach der Probe blieb ich noch, um Jenny und den Schülern der vierten Klasse beim Wegräumen der Bühnenelemente zu helfen.
»Kommen Sie doch auf einen Drink mit.« Jenny zog vor den Bühnenelementen die Vorhänge zu und rollte ihre Ärmel herunter. Wie Simon wohnte sie in einem Cottage gleich außerhalb des Schulgeländes. »Ein paar von uns flüchten ab und zu gern. Man muss das Korrigieren auch mal hintanstellen und Spaß haben, also kommen Sie.«
»Den werden wir auch brauchen, um all diese Proben für das Stück zu überstehen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich wusste von Anfang an, dass es eng werden würde, dieses Stück noch vor Weihnachten zur Aufführung zu bringen. Selbst mit den Proben für die Hauptrollen während der Ferien. Ich muss wohl verblendet gewesen sein.« Sie gähnte. »Entschuldigung, ich bin völlig zerschlagen. Simon ist bestimmt für einen Abend im White Oak zu haben. Und Deidre ebenso. Sie haben heute Abend doch nicht etwa die Hausaufgabenbetreuung der Unterstufe, oder?«
»Nein. Aber ich habe dem Hund einen Spaziergang versprochen.«
»Samson kann auch mitkommen. Ist doch ein netter Ausflug für ihn, die Straße hinunter.«
»Da haben Sie wohl recht.« Zu den Vorteilen meines neuen Singledaseins gehörte, dass ich sofort und auf der Stelle entscheiden konnte, wozu ich Lust hatte, überlegte ich verdrießlich. Ich brauchte auf niemanden Rücksicht zu nehmen. Da Hugh jedoch oft dienstlich unterwegs gewesen war, hatte ich auch früher häufig über Monate hinweg meine Abende allein füllen müssen. Aber das war etwas anderes gewesen, denn ich wusste, er würde schließlich zurückkommen und zählte genauso wie ich die Tage.
Da spürte ich es wieder: dieses plötzliche Pochen unter den Rippen. Ich wollte in meine Wohnung zurück und mich auf dem Sofa zusammenrollen, meinen Kopf in den Kissen vergraben, Samson sollte neben mir auf dem
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