Das geheime Bild
reumütig.
Samantha wandte sich an mich. »Ich hatte bis heute, als Ihr Vater es mir sagte, keine Ahnung, dass sich unter dem Wandgemälde noch ein anderes Bild befand.«
»Hoffentlich hat er Ihnen nicht erzählt, wie es zu dieser Freilegung kam.«
Sie sah mich verdutzt an. Dad lachte nur. »Diese Geschichte erzähle ich Ihnen vielleicht ein andermal.« Es überraschte mich, dass er ihr das Foto gezeigt hatte. Ich hatte gar nicht gewusst, dass er eins gemacht hatte. Es war ihm so wichtig gewesen, die verborgene Frau wieder verschwinden zu lassen.
Nach der großen Strafpredigt an diesem Tag wurde kein Wort mehr über diesen schrecklichen blindwütigen Akt der Zerstörung verloren, wie mein Vater es bezeichnete. Ich rechnete ständig mit einer Bestrafung, die aber ausblieb. Es schien ganz so, als hätte der durch das Entfernen der Farbe ausgelöste Schock alle so erschüttert, dass keiner mehr fähig war zu handeln. Ich hatte gehört, wie mein Vater in seinem Büro telefonierte, aber da Samstag war, schien er niemanden zu erreichen. Am späteren Abend war dann der Kunstlehrer einbestellt worden, weil man ihn um Rat fragen wollte. »… Schmirgeln Sie das Schlimmste ab und malen Sie dann einfach drüber«, hörte ich ihn zu meinem Vater sagen.
Clara und ich hatten im Bett gelegen und uns so elend gefühlt, dass wir kein Wort miteinander wechselten. Ich jedenfalls hatte mich elend gefühlt. Was Clara betraf, ließ sich das schwer einschätzen. Manchmal wurde sie aus mir völlig unerfindlichen Gründen schweigsam. »Sie muss mit ihren eigenen Gedanken allein sein«, pflegte meine Mutter dann zu sagen. »Anders als du, du Plaudertäschchen.« An diesem Abend war auch mir nicht nach Plaudern zumute. Ständig hatte ich diese Frau vor Augen. Ich wartete, bis Claras Atem ruhiger und gleichmäßiger wurde, und stahl mich dann aus dem Bett. Mein Vater schloss die Wohnungstür immer erst ab, wenn er und meine Mutter zu Bett gingen, weshalb sie auch sofort aufsprang, als ich vorsichtig dagegen drückte. Im Flur brannte Licht, und ich konnte die gemalte Frau ganz deutlich erkennen. Zuvor war keine Zeit gewesen, sie eingehend zu betrachten. Auf den ersten Blick war sie mir gefährlich vorgekommen, aber jetzt, bei Nacht, wirkte ihr Gesichtsausdruck eher ergreifend als bedrohlich. »Du siehst traurig aus«, sagte ich ihr. »Sie werden dich wieder übermalen, weißt du.« Der Wind rüttelte an den Fenstern, und die Eingangshalle wirkte plötzlich verlassen, doch zugleich erfüllt von der Präsenz der Vergangenheit. Die Augen der Frau schienen jetzt auf etwas zu verweisen, was sich meinem Verständnis entzog, etwas, das ich zwar spüren, aber nicht beschreiben konnte.
Ich war nach oben geflüchtet, hatte mich hastig durch die unverschlossene Tür geschlichen und erst wieder geatmet, als ich in meinem Bett lag und die Decke über meinen Kopf gezogen hatte, als könnte das, was ich in der Halle unten gespürt hatte, Gestalt annehmen und mich verfolgen.
Jetzt überkamen mich dieselben Empfindungen wie damals in der Eingangshalle. Die Scham vielleicht nicht, aber alle anderen: die Sehnsucht, die Mischung aus Trauer und Freude. Aber ich spürte, dass sie von meinem Vater kamen und auf die beiden jungen Frauen gerichtet waren, die auf dem Weg zum Lehrerzimmer gerade an ihm vorbeigegangen waren. Er sah, dass ich ihn beobachtete, und er senkte entsetzt seinen Blick.
»Was ist denn?«, fragte ich. Er schüttelte den Kopf.
»Manchmal glaube ich, ich werde von Geistern verfolgt.« Er schien seine Trance abzuschütteln. »Komm mit. Lass uns die Sachen deiner Mutter in Angriff nehmen.«
23
I ch fuhr los, um Hugh vom Bahnhof abzuholen. Aus Feigheit lud ich im letzten Moment noch den Hund ins Auto. Sollte sich das Wiedersehen schwierig gestalten, würde er jedenfalls für ein Gesprächsthema sorgen. Samsons heißen Hundeatem seitlich am Gesicht zu spüren war beruhigend. Mit einem kleinen zufriedenen Seufzer machte er es sich auf dem Beifahrersitz bequem. Er dachte womöglich, dass wir einen Ausflug machten, der in einer ausgedehnten Wanderung gipfelte. Wie er auf das Wiedersehen mit seinem Herrchen reagieren würde, war nicht vorherzusehen. Hugh war seine erste Liebe gewesen. Er liebte auch mich, aber Hugh war es, der ihn im Irak aus einem zerbombten Haus gerettet hatte, als er dort postiert war, und dafür sorgte, dass jemand ihm seine Wunden verband und ihn impfte, und dem es gelungen war, ihn irgendwie auszufliegen und in Quarantä ne
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