Das geheime Bild
sondern auch mein Geist. Ich hatte Zeit zum Nachdenken.« Ich musste mir das Mobiltelefon fest ans Ohr drücken, um seine Worte zu verstehen, so leise war seine Stimme geworden. »Es gibt ein paar Dinge, die gesagt werden müssen. Aber persönlich, nicht am Telefon.«
»Okay.« Ich spürte, wie ein Teil meines Widerstandes bröckelte. »Wie mobil bist du denn?«
»Ich hoffe, bald selbst Auto fahren zu können, aber bis dahin fahre ich Zug.«
»Ich könnte dich vom Bahnhof abholen. Wir haben diese Woche Herbstferien.«
»Ich weiß. Ich habe mir eure Webseite angesehen.«
»Du solltest nur nicht am Dienstag kommen, da sind unsere Aufnahmeprüfungen, und es wimmelt von Kindern und Eltern. Der Freitag würde mir gut passen.« Indem ich einen Tag festlegte, hatte ich das Gefühl, mehr Kontrolle zu haben.
»Ich rufe dich an, wenn ich den Fahrplan angesehen habe. Es wird schön sein, dich zu sehen …« Seine Stimme verlor sich.
Ich musste an den Moment denken, als ich ihn das erste Mal auf der Krankenstation von Selly Oak gesehen hatte, nachdem er aus dem Koma aufgewacht war. Er hatte mich schreiend aufgefordert, dass ich weggehen sollte, weil er glaubte, noch immer in Gefahr zu sein. Ich hatte seine Hand gehalten und auf ihn eingeredet, bis die schwarzen Kreise seiner Pupillen sich wieder zusammenzogen und er zu zittern aufhörte. Dann hatte er mit seiner unverletzten Hand meine so intensiv umklammert, dass ich dachte, er würde mir die Knochen brechen. »Ich freue mich darauf.« Meine Stimme bebte. »Schreib mir, mit welchem Zug du kommst.« Ich beendete das Gespräch, bevor ich mich verriet.
Ich zitterte am ganzen Körper. Sämtliche Schutzwälle, die ich aufgebaut hatte – neuer Job, neue Freunde, neue Umgebung –, hatten sich als so fragil erwiesen wie die späten Astern, die sich auf den Blumenbeeten wiegten.
Mit absichtlich langsamen Schritten bewegte ich mich auf das große Haus zu und nahm dabei jedes Detail dieses Oktobernachmittags in mich auf, um mich abzulenken. Die Sonne stand bereits tief, sodass sie über die Fassade des Gebäudes strich und die Formen der Büsche scharf umriss. Hinter mir im Wald krähte ein Fasan. Wieder vermisste ich die Schüler: ihren in der kühler werdenden Luft dampfenden Atem, wenn sie vom Rugby oder Hockey mit ihren schweren Stiefeln übers Gras angerannt kamen.
Weder mein Vater noch ich hatten es bisher übers Herz gebracht, Mums Kleider zu sichten. Ich öffnete die schwere Eichentür der Eingangshalle. Als ich eintrat, stand Dad oben auf der Treppe und hielt etwas in der Hand. Gleichzeitig mit mir betraten Olivia und Emily das Haus durch den Hintereingang und kamen am Wandgemälde vorbei. Dad schaute zu ihnen hinab. Mit einem lauten Ausruf ließ er eine Fotografie fallen. Sie flatterte halbwegs die Treppe hinunter.
»Ich werde sie für Sie aufheben, Mr. Statton.« Olivia rannte die Treppe hoch. Als sie ihre Hand ausstreckte, um das Foto aufzuheben, sah ich, dass sie um ihr Handgelenk ein rotes Gummiband trug.
»Charles?« Samantha kam aus der Wohnung hinter meinem Vater und sah sich fragend um. »Was ist denn? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Geist gesehen.«
Er nahm Olivia das Foto ab und blinzelte mit den Augen. »Danke.« Er schien sich gedanklich aufzurütteln und setzte dann sein Schuldirektorlächeln auf. »Was führt euch hier ins Haus?« Olivia wandte sich an Emily, als erwarte sie, dass diese die richtige Antwort gab.
»Ich habe meinen Laptop im Lehrerzimmer vergessen«, sagte Emily. »Wir wollten ihn nur rasch holen.«
Er machte Platz, damit sie ihn auf der Treppe überholen konnten, starrte aber immer noch Olivia an. Ich folgte den beiden bis dorthin, wo mein Vater stand.
»Charles«, rief Samantha schneidend. »Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Er kniff die Augen zu. »Ich fühle mich plötzlich ein wenig müde. Entschuldigen Sie mich. Hier ist das Foto. Man konnte es recht gut erkennen, obwohl es, wie Sie sehen werden, meinen Töchtern nicht gelungen war, die oberste Schicht einheitlich abzutragen.«
Sie nahm das Foto. Ich stand nah genug, um über ihre Schulter einen Blick darauf zu werfen. Die Jahre fielen von mir ab, ich war wieder zehn und starrte auf die verbotene Frau an der Wand. Mein Rückgrat wurde zur Eissäule, als die Gefühle dieses Tags wieder über mich hereinbrachen. Mum und Dad waren unglaublich wütend. Meine Schwester war voller Angst vor dem elterlichen Zorn. Ich selbst fühlte mich halb neugierig, halb
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