Das geheime Bild
»Cathy Jordan hat Olivia überwacht. Sie kann gut mit Menschen umgehen, weißt du.«
Ich musste meine Vorbehalte beiseiteschieben und zustimmen. Cathy schien im letzten Trimester tatsächlich ein paar Fälle von Anorexia schon im Keim erstickt zu haben, wie mir einfiel. Sie hatte außerdem darauf bestanden, dass ein ernsthaft gefährdetes Mädchen zu einem Spezialisten nach Oxford überwiesen wurde, obwohl die Eltern beteuerten, ihre Tochter leide nur unter Prüfungsängsten.
Aber was ist mit Emily?, überlegte ich. Sie fiel nicht in Cathys Zuständigkeitsbereich.
Er sah mich fragend an. »Warum bist du so besorgt, Merry? Warum jetzt?«
»Warum zeichnest du wieder?« Ich sah ihn direkt an. Um ihm den Schneid abzukaufen. »Oder besser gefragt, warum hast du so viele Jahre lang darauf verzichtet? Ich weiß, dass du immer viel zu tun hattest, aber es gab auch immer lange Sommerferien.«
»Vielleicht braucht im Moment jeder von uns seine Übersprungshandlungen.« Ich musste mich vorbeugen, um ihn zu verstehen. »Ich weiß nicht, was mich dazu bringt, wieder zeichnen zu wollen. Vielleicht ist es normal, dass man, wenn man jemanden verloren hat, auf einen früheren Teil seines Lebens zurückblickt, um wieder die Person zu sein, die man damals war, bevor das Erwachsenenleben einen mit sich riss.«
Er hatte seine Kindheit aufgegeben, sobald er nach England kam, wo er ein Stipendium bekam, um an der Universität Germanistik zu studieren, bevor er aufs Lehrerseminar ging. »Britannien hat mich aufgenommen«, wurde er nicht müde zu erzählen. »Das ist ein großzügiges Land.«
Aber seine Malerei hatte er verworfen. Bedauerte er das heute? Vielleicht fragte er sich jedes Mal, wenn er am Wandgemälde in der Eingangshalle vorbeikam, warum er es hatte sein lassen. Vielleicht fragte er sich auch, ob es das Opfer wert gewesen war.
Ich spürte, dass das wiederbelebte Interesse am Zeichnen ein zartes Pflänzchen war. Würde ich zu sehr darauf herumreiten, gab er es womöglich wieder auf. »Ich gehe jetzt besser«, sagte ich. »Ich bin mit Simon zum Essen verabredet. Später komme ich zurück, um Mums Sachen auszusortieren.«
»Du hast dir die Ferien redlich verdient«, sagte er. »Ganz im Ernst, Merry, ich glaube, ich habe dir noch nicht gesagt, wie dankbar ich dir für alles bin, was du seit dem Tod deiner Mutter für mich und die Schule getan hast.«
»Das ist doch gar nichts«, erwiderte ich schroff. Alles andere hätte mir den Rest gegeben.
21
S puck es ruhig aus.« Simon war bei seinem zweiten Glas Merlot und stieß den tiefen Seufzer eines Lehrers aus, der eine Woche lang keinen seiner Schüler zu sehen brauchte.
Ich setzte erneut an, um mich für mein Zuspätkommen zu entschuldigen, aber er hob abwehrend die Hand. »Lass es gut sein, erzähl mir nur, was du in den letzten paar Tagen erlebt hast.« Seine Augen funkelten belustigt. »Ich habe dich kaum zu Gesicht bekommen, und du hast offensichtlich ein schlechtes Gewissen, Meredith.«
Ich errötete. »Ich weiß nicht, ob du das gutheißen kannst.«
»Versuch es einfach.«
Ich erzählte ihm von meiner Fahrt nach Bellingham vor ein paar Tagen, wo ich Olivias Tante im Haus ihrer Arbeitgeber aufgespürt hatte, und von Olivias Reaktion vor der Küche, als ich ihr heute Morgen begegnet war. Er sah mich stirnrunzelnd an. »Ich weiß wirklich nicht, ob ich das gutheißen soll. Weiß dein Vater darüber Bescheid?«
Ich nickte. »Er teilt deine Meinung.« Meine Wangen brannten.
»Und die Tante bestritt, etwas damit zu tun zu haben?«
»Sie wirkte nervös und verlegen.«
»Das beweist aber nicht, dass sie oder Olivia irgendetwas mit der Puppe zu tun haben. Sie war vermutlich nur in großer Sorge, sie könnte mit dir erwischt werden, was ihr sicherlich den Zorn ihrer offenbar nicht sehr freundlichen Arbeitgeberin eingebracht hätte.«
»Aber findest du dieses ganze Arrangement nicht auch merkwürdig, die Tante, die sich die Finger wund arbeitet, damit Olivia hier lernen kann? Mir ist völlig schleierhaft, wie sie es schafft, für die Kosten aufzukommen.«
»Offenbar gelingt es ihr. Vielleicht hat Olivia ein Stipendium?«
»Das glaube ich nicht. Dad hat nie was davon gesagt.«
»Er ist immer sehr diskret, nicht wahr?« Simon leerte sein Glas. »Ich muss los. Ich habe mir vorgenommen, nach Burford zu fahren. Dort gibt es ein Antiquariat, das ich unbedingt aufsuchen muss.« Plötzlich wirkte er sehr schüchtern. Ich erwartete, er würde mich fragen, ob ich nicht
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