Das geheime Bild
Eine Landschaft, die eigentlich nicht dazu gedacht ist, von Menschen bewohnt zu werden.
»Siehst du es dir noch immer an?«
»Afghanistan?« Ich schüttelte den Kopf. »Aber ich habe einmal auf Google Map nachgesehen, wo du … wo …«
»Wo es passiert ist?« Seine Stimme war neutral. Vielleicht war er über das Stadium hinweg, überhaupt noch Gefühle zu empfinden, wenn er von der Explosion sprach.
»Die Landschaft wirkte nicht sehr einladend.«
Er lachte. »Die Berge können umwerfend sein – so trutzig und abweisend. Und die bewässerten Felder haben etwas Malerisches: fruchtbares Land voller Gemüse. Es gibt wunderschöne Moscheen und Festungen in Herat. Dort werden auch gute Ton- und Glaswaren gefertigt.« Er blickte auf den kleinen Rucksack, den er mitgebracht hatte. »Aber das Gebiet, wo wir uns aufhielten, hatte nicht viel zu bieten.«
Ich schlug das Lenkrad ein und fuhr in die Stallungen. Dieser Hof dürfte früher einmal von den Hufen der Pferde und den Pfiffen und Gesprächen der Stallburschen, dem Klirren des Sattel- und Zaumzeugs und den die Ställe ausfegenden Besen widergehallt haben. Jetzt war es hier still und ordentlich mit Töpfen voll roter Geranien. Ich wusste nicht recht, warum dieser einsame Gedanke mir gerade jetzt durch den Kopf gegangen war. Hugh nahm alles schweigend in sich auf. »Erinnerst du dich noch an diese alten Ställe? Ich wohne oben drüber in den Räumen der Stallburschen.«
»Ich erinnere mich, dass dein Vater sie umgebaut hat. Als ich das erste Mal nach Afghanistan ging.«
Wir stiegen aus. Ich richtete meinen Blick auf die Eingangstür, damit ich nicht zusehen musste, wie er mit der Wagentür zurechtkam. Die Treppenstufen hoch zu meiner Wohnung waren breit und niedrig. Meine Mutter hatte vorausgedacht, als sie den Umbau planten, und dafür gesorgt, dass beidseits der Treppen Geländer angebracht wurden, damit man auch im Alter gut hinauf- und hinuntergehen konnte. Sie hatte sich zwar vorgestellt, älter und gebrechlicher zu sein, aber noch immer hier wohnend. Dass sie mit dreiundsechzig Jahren schon in ihrem Grab läge, damit hatte keiner gerechnet. Dreiundsechzig, das war kein Alter.
»Hier wohne ich.« Ich schloss die obere Tür auf. Er betrachtete die nackten Wände. »Ich hatte noch keine Zeit, mich richtig einzurichten«, sagte ich.
»Ich auch nicht.« Er streifte mich mit seinem Blick.
»Kaffee?«
»Wunderbar.« Er folgte mir in die Küche. Samson warf sich mit einem zufriedenen Seufzer auf sein Bett unter der Arbeitstheke. Die beiden Menschen, die er am meisten liebte, waren wieder unter demselben Dach vereint. Ich hatte eine Dose des Kaffees gekauft, den Hugh immer so gern getrunken hatte. Der Deckel war unheimlich schwer abzuschrauben. Er streckte seine Hand danach aus. Ich fragte mich, wie er das mit seiner verstümmelten linken Hand bewerkstelligen wollte, aber seine Kraft war nach wie vor vorhanden. »Noch vor vierzehn Tagen hätte mich das gefuchst«, gab er zu. »Obwohl ich Rechtshänder bin, ist es erstaunlich, wie sehr man sich zum Festhalten auf die andere Hand verlässt.«
Ich reichte ihm einen Becher an. »Wir können uns auch setzen, wenn …«
»Nein.« In seinen Augen blitzte was Zorniges auf. »Ich muss mich nicht hinsetzen. Ich kann genauso gut stehen wie alle anderen auch.«
»Ich hätte nichts dagegen, mich hinzusetzen.« Ich war müde. Nach der Hälfte des Trimesters ging mir das oft so. »Aber ich werde erst den Kaffee kochen.«
»Entschuldige«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Ich benehme mich selbst wie ein Sprengkörper. Diese Verletzung hat mich paranoid gemacht. Ich denke immer, alle haben es auf mich abgesehen. Oder wollen andeuten, ich sei dem nicht gewachsen.«
»Es ist ganz verständlich, dass du so denkst, finde ich.« Hoffentlich dachte er jetzt nicht, ich wollte damit sagen, dass es verständlich war, wenn Leute ihn für paranoid hielten.
»Die anderen Leute sind nicht so. Die anderen Überlebenden.«
»Jemand hat versucht, dich umzubringen. Da wäre ich anderen Menschen gegenüber auch verunsichert.«
Er sah mich lange an. »Ja, genauso fühlt es sich an. Jemand versuchte, mich umzubringen. Und man hat zwei meiner Männer getötet.« Seine Augen wurden schmal. Mein Herz wurde weich wie ein geschmolzenes Toffee, weil ich wusste, wie weh das tun musste. »Es macht mich wütend, Meredith. Aber die Wut scheint sich an den falschen Stellen zu entladen.« Ich musste an die Wut denken, die er in der Rehaeinrichtung
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