Das geheime Bild
eine Tochter, Sofia.« Meine Haut prickelte. Dad blätterte im Fotoalbum. »Da haben wir sie: Das ist Hana mit ihren beiden Kindern.« Eine schlanke Frau mit kastanienbraunen Haaren, daneben ein Junge in Shorts, der Jan sein musste, und ein Baby. »Sofia, das Baby auf diesem Foto, hat ein paar Jahre im Ausland gearbeitet. Sie dürfte etwa so alt sein wie du, Meredith.« Wir sahen einander an.
Frau Novakova brachte klappernd ein beladenes Tablett herein, und ich stand auf, um auf dem niedrigen Tisch vor dem Sofa Platz zu machen. »England«, sagte sie. »Sofia arbeitet in England.«
Wie ich bereits wusste.
»Aber wo ist das Kind?«, fragte ich Dad und spürte dabei die Ungeduld in meiner Stimme. »Wo ist Jans Mädchen, deine Enkelin?« Schon als ich die Frage stellte, kannte ich die Antwort. Ich wandte mich an die alte Frau. »Haben Sie ein Foto von Jans kleinem Mädchen?«
Einen Moment lang dachte ich, sie hätte mich nicht verstanden. »Kleines Mädchen?« Ihre Augen wurden glasig. Sie sagte etwas und ging aus dem Zimmer, öffnete eine weitere Tür am anderen Ende des Flurs und kam mit dem silbergerahmten Foto eines Kleinkinds zurück, das auf dem Schoß einer Frau saß. Ich betrachtete eingehend das rundliche Gesicht des Kindes. »Wie heißt es denn?«, fragte ich.
»Irena«, erwiderte Frau Novakova, deren Fähigkeit, das Englische zu verstehen, offenbar je nach emotionaler Intensität der Fragestellung schwankte. »Sie ist in England.«
Irena. Nicht Olivia. Die Enttäuschung brach wie eine kalte Welle über mich herein.
Ich starrte Irena an. Aber sie sah aus wie jedes andere kleine Mädchen dieses Alters.
32
Meredith
W ir erwischten unser Flugzeug mit einem olympiareifen Sprint zum Gate. In seiner Hand hielt mein Vater zusammen mit seiner Boardingkarte das Foto von Jan: der arme tote Jan, der seinen Vater und seine Halbschwestern nie kennengelernt hatte und dessen eigene Tochter so früh Waise geworden war.
Als wir schließlich unsere Plätze eingenommen und die Sicherheitsgurte festgezurrt hatten, bat ich ihn, mir die Fotos noch einmal ansehen zu dürfen.
Die alte Frau hatte uns das Foto von Hana mit ihren beiden Kindern überlassen: Jan und Sofia. Sie hatte auf das gerahmte Foto von dem Kleinkind Irena gezeigt, die Dads Enkelin war, und dann mit ängstlicher Miene die Hand auf ihr Herz gelegt.
»Nein, nein!«, hatte Dad entsetzt abgewehrt. »Wir würden Sie nie um dieses Foto bitten.«
Vermutlich hatte Irenas Foto einen Ehrenplatz neben ihrem Bett. Bestimmt vermisste sie Sofia und Irena sehr. Die alte Dame schien zu begreifen, was sich in meinem Kopf abspielte, denn sie kam auf mich zu, streichelte meine Wange und murmelte etwas.
»Sie sagt, du sollst ihretwegen nicht so traurig sein«, übersetzte Dad mir. »Sie sagt auch, du seist jung und hübsch , und dein Ehemann müsse dich lieben.«
Offenbar hatte sie den Ring an meinem Finger entdeckt. Hughs zerfleischter Körper blitzte vor mir auf, und ich musste gegen die Tränen anblinzeln. Vielleicht war die alte Frau doch nicht so klarsichtig, wie sie dachte. Sie sagte noch etwas und wedelte dabei mit den Händen.
»Sie möchte, dass wir Irena finden und ihr eine Familie sind. Sie macht sich Sorgen um die beiden: Sofia und Irena. Sie hört nicht oft von ihnen. Sofia lässt sich nicht genau darüber aus, was sie macht. Auch was Irena betrifft, hält sie sich bedeckt.« Dad und ich sahen einander an. In ihm schien der gleiche Verdacht wie in mir zu keimen, dass nämlich Irena jemand war, den wir kannten, jemand, der uns in Letchford ganz nah war.
»Hast du ihr gesagt, wo Irena sich deiner Meinung nach aufhält?«
Er wandte sich ab.
»Dad?«
»Nein. Noch nicht. Es ist einfach zu viel, sich vorzustellen, dass sie die ganze Zeit in der Schule gewesen ist, gewesen sein könnte. Warum tut sie das?« Seine Stimme senkte sich zu einem Flüstern. »Wieso diese ganze Heimlichtuerei?«
»Wenn es Olivia ist.«
Als wir die Wohnung verließen, fragte ich: »Hat sie denn keine anderen Fotos von Irena?« Dad und die Frau sprachen miteinander. Sie ging zurück zur Schublade im Wohnzimmer und blätterte ihre Briefumschläge durch, wobei sie mit der Zunge schnalzte. Diese Fremden aus England belästigten sie in mehr als einer Hinsicht. Sie zog ein Foto heraus und reichte es Dad achselzuckend.
»Es ist nicht so scharf wie das andere Foto«, sagte er. »Aber hier ist sie älter.«
Ich sah ein etwa vierjähriges Mädchen. Das vertrauensselige Grinsen des
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