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Das geheime Bild

Das geheime Bild

Titel: Das geheime Bild Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eliza Graham
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stellte er eine weitere Frage, weniger drängend und in sanfterem Ton, sie antwortete und wischte sich die Tränen aus den Augen. Dann senkte er seinen Blick auf das Foto und starrte wortlos darauf, eine Hand über den Augen, sodass sein Gesichtsausdruck mir verborgen blieb.
    »Wer ist das?« Ich griff nach dem Album und zog es zu mir. Ein Schulkind in Shorts, wie man sie in den Siebzigerjahren trug, kurze braune Haare, eine Art von Uniform mit einem geknoteten Schal, eine entschlossene Miene. Er oder sie, das war schwer festzustellen, erinnerte mich an jemanden, den ich sehr gut kannte.
    Er wandte sich mir zu. »Mein ältestes Kind.«

31
    Meredith
    C lara?« Ich musterte das Foto erneut. Und erkannte, dass es nicht meine Schwester war. Es war ein Junge in einer Uniform wie von den Pfadfindern. Doch auch Clara hatte diesen entschlossenen Mund und diesen direkten Blick.
    »Jan.« Mein Vater sprach den Namen fast im Flüsterton. Langsam dämmerte mir, was geschehen war. Vermutlich begriffen meine Körperzellen es schon, bevor mein Gehirn sich einschaltete. Mein Bruder . Jan.
    »Hana war schwanger, nicht krank, als du zur Grenze gingst.« Ich sagte diese Worte ganz langsam. Hanas Übelkeit und Müdigkeit hatten nichts mit der im Zug gegessenen verdorbenen Wurst zu tun gehabt.
    Er nickte. »Frau Novakova hier weiß nicht, ob Hana bereits wusste, was los war, als sie wegrannte. Maria Novakova ist übrigens Hanas Cousine. Sie hat ihr ganzes Leben lang hier gewohnt.«
    Ich betrachtete die alte Dame, die immer weichherziger zu werden schien. Mit ein paar gackernden Lauten in meine Richtung wuselte sie davon und rief etwas über ihre Schulter. »Kaffee«, übersetzte Dad. Ich schielte auf meine Uhr.
    »Es gibt immer auch einen nächsten Flug.« Ich traute meinen Ohren kaum. Das von meinem Vater. Er lächelte mich an. Niemals, soweit ich mich erinnern konnte, hatte mein Vater akzeptiert, dass man einen Flug oder einen Zug verpasste, Pläne über den Haufen warf oder die Verwaltung seiner geliebten Schule gefährdete. Zum ersten Mal in vielen Jahren ließ mein Vater den Ereignissen ihren Lauf, anstatt sie in einen Stundenplan von Einheiten zu fünfundvierzig Minuten zu pressen.
    »Wir werden draufzahlen müssen«, warnte ich ihn. »Wir haben keinen offenen Rückflug.« Ich redete wie meine Schwester.
    Er machte eine seiner Gesten mit den offenen Händen, um zu zeigen, wie gleichgültig ihm die zusätzlichen Kosten waren. »Nachdem Hana unseren Sohn geboren hatte, hat sie ihr Studium in textilem Gestalten nicht zu Ende geführt, doch es war ihr gelungen, eine Stelle als Kunstlehrerin zu finden. Sie war in Sorge, die Schulbehörde könnte sich daran erinnern, dass sie sich als Studentin politisch betätigt hatte, aber ihr Vater war ein hohes, von den Russen akzeptiertes Tier gewesen. Sie arbeitete hier an einer Schule, bis sie Ende der Achtzigerjahre an Brustkrebs starb.«
    »Und sie dachte nie daran, dir mitzuteilen, dass sie ein Kind von dir hatte?«
    »Sie hat die Samtene Revolution nicht mehr erlebt. Vermutlich erachtete sie die Chancen, dass ich Jan jemals sehen könnte, als zu gering – wozu also?«
    »Wo ist Jan jetzt?«
    »Er lebt nicht mehr.«
    »O Dad.« Sein Gesicht war schmerzverzerrt. Er hatte seinen Sohn gefunden. Und ihn verloren. Und das alles binnen fünf Minuten. Ich überlegte, ob sich wohl alle Männer nach einem Sohn sehnten? Was konnten Clara und ich, weibliche Geschöpfe, dem entgegenhalten? Ich richtete meinen Blick auf die blau-weißen Porzellantassen, um ihn wieder zu sich kommen zu lassen.
    »Jan studierte Medizin.« Dad hatte sich wieder gefangen. »Er hatte Erfolg im Leben.«
    Natürlich, überlegte ich. Er war dein Kind.
    »Als er Ende zwanzig war, heiratete er.«
    Die alte Frau mischte sich ein und schien etwas zu unterstreichen. Er nickte. »Sie waren beide an einem Kinderkrankenhaus tätig, als er und seine Frau vor vierzehn Jahren bei einem Unfall mit einem betrunkenen Autofahrer verunglückten.« Er biss sich auf die Lippe. Ich nahm seine Hand und drückte sie. »Beide starben.«
    Ich wartete. Da kam noch mehr. Da er nichts sagte, sprach ich es aus. »Jan hatte ein Kind, nicht wahr?«
    Er nickte. »Dazu komme ich noch.« Er legte immer großen Wert darauf, die Ereignisse in der richtigen Reihenfolge wiederzugeben. »Ich muss kurz noch einmal zurückgehen. Hana hatte mit Ende zwanzig geheiratet. Damals war Jan ein Junge von neun oder zehn Jahren. Nach ein paar Jahren bekam sie ein zweites Kind,

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