Das geheime Bild
besten Freund verärgert, indem ich ihn bat, sich um den Hund zu kümmern. Oder weil ich Samson so spät noch abgeholt hatte. Ich fluchte leise, und der Hund spitzte die Ohren und fiepte.
Am nächsten Morgen wurde ich zehn Minuten nach dem Weckerläuten wach. Ich hatte es eilig, zur Morgenversammlung zu kommen, und deshalb keine Zeit, über die Ereignisse nachzugrübeln. Als ich meinen Vater betrachtete, der in der Aula vor dem Pult stand, suchte ich nach Anzeichen von Stress. Doch ich glaube nicht, dass außer mir oder meiner Mutter, wenn sie noch leben würde, jemand das leichte Zittern seiner Hand bemerkt hätte, in der er die Ergebnisse des letzten Hockey-Matches von vor den Herbstferien hielt. Vielleicht wäre auch keinem außer uns das Leuchten in seinen Augen aufgefallen.
Am Ende der Versammlung schloss Olivia sich ihrer Jahrgangsstufe an und ging nach draußen, ohne ihren Blick auf irgendetwas zu richten. Ich musterte das Gesicht meines Vaters, als das Mädchen, das mit Sicherheit seine Enkelin war, unter ihm vorbeiging, und bekam mit, wie er gegen die Zuckung ankämpfte, die seine stramme Schuldirektorhaltung bedrohte. Bestimmt zerriss ihn der Wunsch, sie zu sich zu rufen. Ich fragte mich, wann er Sofia wohl anrufen und sie um ein Treffen bitten würde. Die alte Dame dürfte sich inzwischen bestimmt bei ihr gemeldet und sie darüber informiert haben, was geschehen war.
Dieser Gedankengang wurde abrupt von Emily unterbrochen. Sie machte trotz der Ferienwoche einen sehr angespannten Eindruck. »Kann ich Sie sprechen?«
Offenbar sah sie mir meine Überraschung an.
»Es ist dringend.«
Ich warf einen Blick über meine Schulter. Eine Gruppe Sechstklässler schlenderte vorbei und bekam lange Ohren. »Lassen Sie uns an einen Ort gehen, wo wir ungestört sind.« Dad steuerte die Tür des Saals an und wollte nach oben in sein Büro. Mein Bedürfnis, ihn zu beschützen, führte zu dem Entschluss, ihn hiermit nicht auch noch zu belasten. Vielleicht konnte ich mich an seiner statt um Emily kümmern. Ich hatte eine Freistunde. »Das Lehrerzimmer.« Aber als wir dort ankamen, hörten wir Geplauder. Ich sah Emily an. »Simons Zimmer.«
Sie riss die Augen auf.
»Er wird nichts dagegen haben.« Ich hatte den Geschichtsraum schon öfter benutzt, wenn ich in Ruhe etwas besprechen wollte. Ich hatte kein eigenes Klassenzimmer. Simons erste Stunde war ebenfalls eine Freistunde. Es kam mir vor, als wäre eine Ewigkeit vergangen, seit ich ihm zu Hilfe geeilt war, nachdem er die Reborn-Puppe gefunden hatte. Ich zog zwei Stühle von den Pulten weg und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. »Was ist denn, Emily? Was ist passiert?«
»Ich kann hier nicht mehr länger arbeiten.« Das Mädchen sah fast krank aus, seine schon normalerweise blasse Haut war noch um Nuancen heller.
»Ich dachte, Sie sind von Letchford begeistert?« Ich musste dabei an unsere Gespräche über den Garten denken, dass sie Blumen liebte und sich nicht vorstellen konnte, wie es wäre, von diesem Ort verbannt zu werden. Sie zuckte die Achseln.
»War ich auch. Bin ich noch.«
»Aber?«
»Ich passe nicht hierher.« Sie zog an den Ärmeln ihres teuer aussehenden Pullovers. Offensichtlich hatte sie sich in den Ferien ein paar neue und wärmere Kleidungsstücke gekauft.
»Wir stehen doch noch ganz am Anfang des Schuljahrs. Oftmals dauert es bis nach den Ferien, bis man sich richtig eingefunden hat. Und es kommt noch so vieles. Partys und Konzerte.« Obwohl die Schule nicht religiös geprägt war, hatte Dad sich immer für Weihnachtsfeiern eingesetzt. Es war schon immer meine liebste Zeit im ganzen Schuljahr gewesen. »Und dann wird natürlich am Ende des Trimesters Hexenjagd aufgeführt. Sie helfen doch bei den Kostümen mit, habe ich recht?«
»Ich habe ein paar Entwürfe gemacht. Und einige Kostüme sind auch schon fertig.«
»Hat es Ihnen denn Spaß gemacht?«
Sie nickte.
»Sie werden doch Jenny nicht im Stich lassen, oder?«
»Vielleicht nicht.«
»Wenn es Ihnen Spaß macht, dann kommen noch andere Stücke. Wenn sich erst einmal herumgesprochen hat, dass Sie das gut machen, werden Sie gefragt sein.«
»Ich werde darüber nachdenken.«
»Es liegt uns wirklich viel daran, dass Sie hier glücklich sind.« Ich legte meine Hand auf ihr Handgelenk. Sie starrte darauf. »Sie haben einen guten Eindruck gemacht.« Mochte sie auch mit wenig Begeisterung den Sportlehrern auf dem Spielfeld geholfen haben, so war ihre Arbeit an den Kostümen doch wirklich
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