Das geheime Leben des László Graf Dracula
gesellschaftlichen Spielregeln nicht mehr so ganz gewachsen.
Ich blieb noch ein wenig auf dem Balkon, genoß die angenehme Kühle des Windes an meinem Hals, nachdem die verfilzte Mähne nun gekappt und der Bart abrasiert war. Ich bin frisch überholt worden, und die Veränderung verleiht mir ein Gefühl von Kompaktheit, als sei ich nunmehr, befreit von all dem Gestrüpp, auf mein eigentliches Wesen zurechtgestutzt. Die Lethargie hat mich verlassen. Ich fühle mich innerlich verdichtet, konzentriert.
Die weite Sicht von dem Hotelbalkon über die Donau zu dem Hügel von Buda und den Bergen dahinter erfüllt mich mit gespannter Erwartung, und doch weiß ich, daß ich nur auf die Gefahr hin, meine unvermeidliche Festnahme voranzutreiben, zum Leben erwachen kann. Noch ist es Zeit, umzukehren, bevor der Blutdurst meine klare Sicht trübt und all mein Trachten auf einen Punkt hin verengt, wo menschliches Feingefühl, Mitleid oder Anstand mich nicht mehr zurückzuhalten vermögen.
ABEND
Wir haben für eine Woche eine Droschke gemietet, und mit ihr fuhren wir die kurze Strecke die Andrassy-Straße hinauf bis zu der Adresse, die Nicole uns angegeben hatte. Brod wurde zu diesem Besuch mitgenommen, offenbar als Vorsichtsmaßnahme, falls ich beschließen sollte, mich aus dem Staub zu machen.
Die von Picks haben sich in einem neuen Wohnblock eingemietet, der tatsächlich dicht bei der Oper liegt, wie Nicole schrieb. Es ist eine vornehme Adresse, wie nicht anders zu erwarten bei jemand so wohlhabendem wie Lothar, aber als wir dort ankamen, wies uns der Pförtner zu einer der Wohnungen hoch oben in dem Gebäude, und außerdem zum Hof hin gelegen. Das Mädchen, das uns an der Tür begrüßte, war höflich, aber ganz offensichtlich nur ein Mädchen vom Lande und noch nicht an städtische Umgangsformen gewöhnt. Also hatten sie ihr Dienstpersonal wohl in Wien zurückgelassen, was mir merkwürdig vorkam. Diese Anzeichen deuteten darauf hin, daß es mit Nicole und Lothar bergab gegangen war, seit wir uns das letzte Mal gesehen hatten.
Das Hausmädchen führte uns in einen Salon, in dem eine Dame mittleren Alters und eine jüngere Dame saßen. Nicole stand sofort auf, um Elisabeth zu begrüßen. Nichts zeigt das Fortschreiten der Zeit so objektiv wie die Begegnung mit einer Frau, in die man vor zwanzig Jahren mal verliebt war. Das Leben hatte Nicole allen Saft entzogen. Zwar hatte sie ihre schlanke Figur bewahrt, aber ihr Haar war ohne Glanz und an den Schläfen ergraut, das Gesicht beinah farblos vor Blässe. Ihre Lippen waren dünn und in einem Willkommenslächeln fest zusammengekniffen, und die scharfen Falten um die Mundwinkel zeugten von der Anstrengung, die es sie in den vergangenen Jahren gekostet haben mußte, um einfache Dinge zu kämpfen und in der Hoffnung auszuharren, daß die Zukunft Besseres bringen würde.
Nur ihre Augen hatten ihren früheren Reiz behalten, und als sie mich dann mit einer typischen Geste ansah – den Kopf ein wenig zur Seite geneigt, das Kinn auf den zierlich gekrümmten Zeigefinger gestützt –, erinnerte ich mich an jenes begehrliche Erschauern, das sie mutwillig in mir hatte wecken können, obwohl sie nicht mehr die Ausstrahlung besaß, es mich fühlen zu lassen.
Nicole beendete den Austausch von Höflichkeiten mit Elisabeth und wandte sich mir zu. Wir starrten einander an, unser beider Blicke suchten ängstlich das Gesicht des anderen ab, forschten nach irgendwelchen Erkennungsmerkmalen, die ein Gefühl von Vertrautheit auslösen würden. Wir waren wie Schlafende, die langsam aus dem Traum der Erinnerung erwachten, um sich schließlich mit der Realität der Gegenwart abzufinden.
»Ich muß schon sagen, Sie haben sich wirklich kaum verändert«, sagte ich ritterlich. Wie dankbar sind wir um die von der Gesellschaft vorgeschriebenen Umgangsformen; an sie können wir uns halten, wenn die Wahrheit sich beim besten Willen nicht in Worte fassen läßt.
»Und Sie wirken sehr distinguiert«, sagte sie. »Das Leben eines Landedelmanns scheint Ihnen zu bekommen.«
»Nun, es ist ein ruhiges Dasein. Manche würden das Leben in diesem zugigen alten Schloß wohl ein wenig langweilig finden.«
»Aber nicht doch! Ich fand das Schloß in meiner Jugend ganz zauberhaft. Und wenn ihm auch einige moderne Bequemlichkeiten fehlten, so hat das doch nur seinen romantischen Charme erhöht. Diese Dinge sind heute groß in Mode.
Manche Leute nehmen jede Mühsal auf sich, ganz zu schweigen von Unkosten, um sich
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