Das geheime Leben des László Graf Dracula
mir erlöschen wird. Seither hat er mich immer wieder mit versteckten Andeutungen belästigt, daß er mir einen Besuch abstatten wolle. Ganz unten in dem Stoß lag ein Umschlag in modischem Blau, in einer Handschrift adressiert, die ich nicht erkannte. Doch ich merkte gleich, daß es dieser Brief war, der sie veranlaßt hatte, neben mir stehenzubleiben und mit Spannung meine Reaktion abzuwarten.
Zuerst weckten die Namen keinerlei Erinnerung. Das Französisch, das ich doch von Kind auf beherrsche, kam mir wie eine fremde Sprache vor. Ich las.
Mein lieber László, so viele Jahre sind vergangen, seit wir im Bois de Boulogne zusammen gepicknickt haben! Lothar und ich haben oft von Ihnen gesprochen und uns überlegt, was wohl aus Ihnen geworden ist und wie es Ihnen in der großen Lotterie des Lebens ergangen sein mag. Ich bedaure, daß ich keine Gelegenheit hatte, Ihnen Lebewohl zu sagen, als Sie so plötzlich infolge des heroischen Opfers Ihres Bruders nach Hause gerufen wurden.
Meine Mutter und mein Vater (die jetzt beide bei Gott sind, wie Sie vielleicht wissen, und von uns hienieden schmerzhaft vermißt werden) haben viele Male nach Ihnen gefragt, aber leider gab es ja keine Neuigkeiten von Ihnen.
Wir sind über die jähre durch alle Höhen und Tiefen des Lebens gegangen wie Sie gewiß auch. Wir sind mit Stephanie, unserer wunderbaren Tochter, gesegnet worden. Sie ist siebzehn Jahre alt (großer Gott, kann es wirklich sein, daß so viele Jahre vergangen sind, seit wir uns auf den Soirees meiner Eltern über Poesie und Musik unterhalten haben?) und bereits eine richtige junge Dame! Lothar wurde vom Finanzministerium nach Budapest berufen, und wir haben uns jetzt in der Andrassy-Straße niedergelassen, in der Nähe des Opernhauses. Budapest ist nicht Paris, auch wenn man seine Phantasie noch so sehr anstrengt, aber es besitzt eine Wärme und einen Charme, die einen für den Mangel an Weitläufigkeit reichlich entschädigt. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, was für eine angenehme Abwechslung es ist nach all der steifen Förmlichkeit in Wien, die wir so verstaubt gefunden haben. Und die Verleumdungen und der Klatsch! Lassen Sie mich einfach sagen, daß Budapest mir dagegen, selbst in seiner Ungeschliffenheit, geradezu heilsam und erfrischend erscheint. Ich bin sicher, daß Sie und Ihre Frau (verzeihen Sie die Mutmaßung) von Zeit zu Zeit in die Stadt kommen müssen. Falls Sie uns besuchen wollen, wären wir absolut entzückt, Sie zu sehen. Wir sind an den Dienstagnachmittagen immer zu Hause, aber in Budapest scheint sich niemand für diese Art Dinge zu interessieren, und vielleicht ist es das beste, Sie lassen uns einfach wissen, welche Zeit Ihnen am genehmsten wäre.
Mit wärmsten Empfehlungen
Ihre Cousine
Nicole
»Würdest du mir das bitte erklären?« fragte Elisabeth. Nach der Affäre mit Estelle hat sie jedes Recht, auch wegen scheinbar harmloser Briefe mißtrauisch zu sein.
»Es steht doch alles drin, und mehr steckt nicht dahinter«, erwiderte ich.
Zwischen uns besteht ein stillschweigendes Übereinkommen, daß mein heimliches Doppelleben niemals, nicht einmal andeutungsweise, zur Kenntnis genommen wird. Diese Verfügung spielt in Elisabeths moralischer Ökonomie eine gewisse Rolle, die ich nicht ergründen kann, aber ich bin verpflichtet, sie zu respektieren. Sosehr ich in meinen Gefühlen auch verhärtet sein mag, reagiere ich doch außerordentlich sensibel auf den geringsten Kummer, den ich ihr verursachen könnte. Heißt das nicht, daß ich Elisabeth zumindest schätze, wenn auch nicht liebe? Ich wünschte, ich hätte Elisabeth lieben können. Aber selbst während ich diese Worte schreibe, weiß ich, daß sie eine Lüge sind. Ich bin, was ich bin.
»Nicole ist eine Cousine von seiten meiner Mutter«, erklärte ich. »Als ich in Paris studiert habe, bin ich oft in das Haus ihrer Eltern gegangen. Sie hat Lothar geheiratet. Er ist Österreicher, hatte irgendeinen Posten bei der Botschaft in Paris, Stinkreich. Seine Familie hat Uniformen für die Armee hergestellt.«
»Es wundert mich nur, weil du noch nie von ihnen gesprochen hast.«
»Aber bestimmt habe ich sie schon mal erwähnt.«
»Nicht, als wären es gute Freunde.«
»Das ist alles so lange her.«
»Und jetzt plötzlich, aus heiterem Himmel...«
»Du hast den Brief doch gelesen. Lothar wurde nach Budapest versetzt.
Wahrscheinlich kennen sie da niemanden. Das hat sie dazu bewegen, Kontakt aufzunehmen.«
»Findest du das denn nicht etwas
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