Das geheime Leben des László Graf Dracula
kann Berge versetzen. Als ich einen solchen Fürsprecher brauchte, war es vorbei mit meiner Macht.«
9. APRIL 1888, NACHMITTAG
Sie sind schon eine Woche hier, und wir wissen bald nicht mehr, was wir ihnen noch zeigen können. Sie sind höflich und aufmerksam. Ich kann nicht umhin, mich zu fragen, warum? Seit wann hegt Lothar ein Interesse an Fütterungen mit Wintergetreide? Von wie vielen neuen Variationen der traditionellen Kleidung unserer Bauern kann Nicole noch schwärmen, bevor sie ihre Begeisterung für diese Form der Schneiderkunst verliert? Wenigstens Stephanie ist ehrlich mit ihren Gefühlen und macht keinen Hehl aus ihrer Langeweile. Jakob hat für sie ein altes Stück Fell aufgetrieben, und sie rollt sich damit in der Ecke der Kutsche zusammen. Abwechselnd schläft und schmollt sie, und dann, wenn ich glaube, daß sie sich vollends zurückgezogen hat, stelle ich fest, daß ihre Augen auf mir ruhen. Eingehüllt in die Decke, ist sie unermüdlich wie eine Katze.
Wenn unsere Blicke sich begegnen, stößt sie einen Seufzer aus und setzt mit einem frommen Augenrollen eine gelangweilte Miene auf.
Bei unserem Ausflug heute kamen wir an einem Zigeunerlager neben den Eisenbahnschienen gleich hinter dem Bahnhof vorbei. Da die Regierung alles versucht, um sie von ihrer nomadischen Lebensform abzubringen, sehen wir ihre Wagen kaum noch auf der Heide vor der Stadt. Diese Leute nun boten das gewohnte Bild: Sie sahen nicht so aus, als würden sie auf irgendeine Weise ihren Lebensunterhalt verdienen, sondern saßen auf den Stufen ihrer Wagen, schnitzten an einem Stück Holz oder arbeiteten an einem Zaumzeug für Pferde.
Einige von ihnen schienen größer zu sein, als diese Leute üblicherweise waren, und stolzierten mit O-Beinen durch das Lager, wie es sonst nur Männer tun, die ihr Leben im Sattel verbracht haben.
»Ganz schön harte Burschen«, bemerkte Lothar.
Mich erstaunte, daß keine Frauen im Lager waren. Gewöhnlich sah man sie doch immer ihre Kochtöpfe über den Feuerstellen aufhängen oder Wasser pumpen, aber vielleicht waren sie in die Stadt gegangen, um an den Türen Schmuckstücke und wilde Kräuter zu verkaufen.
In diesem Moment wachte Stephanie auf und wälzte sich herum, um sich von der Felldecke zu befreien. Sie war drauf und dran, aus der Kutsche zu steigen, um den Zigeunern einen Besuch abzustatten.
»Was tust du?« fragte Nicole erschrocken.
»Ich lasse mir meine Zukunft voraussagen«, verkündete Stephanie.
»Du wirst nichts dergleichen tun«, sagte Lothar entschieden.
»Hat jemand ein Stück Silber?« fragte Stephanie gelassen.
Ich glaube, Zigeuner sind in ihren Augen freigeistige romantische Leute, die gern tanzen und fiedeln, und nicht vagabundierende Strauchdiebe, die stehlen, Kinder entführen und noch Schlimmeres tun.
»Ich fürchte auch, das ist keine sehr gute Idee«, versuchte ich zu vermitteln.
»Also, jetzt seien Sie doch nicht so ein Miesepeter«, fiel sie mir ins Wort und warf mir wieder einen schelmischen Blick zu. In meiner Verwirrung verfiel ich automatisch in meine guten Manieren. Bevor ich wußte, was ich tat, war ich zu Boden gesprungen und half ihr herunter.
Elisabeth lehnte sich über die Seite der Kutsche zu mir.
»László, findest du das klug?« fragte sie besorgt.
»Wir sind gleich wieder da«, versicherte ich ihr. »Jakob wird mit uns gehen.«
Der war mehr als bereit und sprang sogleich herunter. Zu Nicole und Lothar sagte ich: »Wir betreten nur kurz das Lager. Ich werde die ganze Zeit bei ihr bleiben.«
Lothar zuckte hilflos die Achseln, aber Nicole machte ein zweifelndes Gesicht. »Du weißt doch, wie sie ist«, brummte er. »Wenn wir es verbieten, dann ist es für sie nur noch aufregender.«
»Der Geruch allein wird genügen, ihr die Illusionen zu nehmen«, sagte ich, doch Stephanie lächelte mich nur verschmitzt an.
Die Zigeuner hatten unsere Kutsche zunächst gar nicht zur Kenntnis genommen, sondern waren weiter ihren Beschäftigungen nachgegangen. Aber kaum waren ich und dann Stephanie ausgestiegen, kam Leben in sie, und ich merkte, daß unsere Annäherung aufmerksam beobachtet wurde. Als wir irgendeinen unsichtbaren Grenzpunkt überschritten hatten, standen ein paar von den grobschlächtigen Kerlen auf und kamen auf uns zugeschlendert. Jakobs Hand fuhr sofort in den Beutel, in dem er die schwere Kavalleriepistole hatte.
Ich winkte ihm zu, diese Dummheit zu lassen.
»Ich kümmere mich darum «, beschied ich die beiden, denn wie es schien,
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