Das geheime Lied: Roman (German Edition)
zügig in Richtung Palast strebten. Dort angekommen, machten sich Onkel und Nichte zu Fuß auf den Weg durch die Gärten, gingen auf den Latona-Brunnen zu und ließen dann die Fliederbüsche sowie das imposante Labyrinth links liegen, in dem man an jeder Abzweigung auf Szenen aus Äsops Fabeln stieß. In Versailles war alles von Magie erfüllt, vor allem aber jener Tanzsalon, der zwischen Birken versteckt dalag. Sie folgten dem Pfad, der von Zweigen überdacht und von hölzernen Wandschirmen gesäumt war.
»Da sind wir auch schon, meine kleine Nymphe«, verkündete Le Nôtre, als sie das Rondell erreichten. »Hörst du den Wasserfall?«
Das Amphitheater hatte eine ovale Form, und eine runde Marmorfläche in seiner Mitte diente als Bühne. Auf der einen Seite befanden sich die mit Gras bewachsenen Sitzreihen, auf denen es die Höflinge Ludwigs XIV . während der Ballettaufführungen bequem haben sollten, auf der anderen Seite prunkte ein faszinierendes Meer aus Halbedelsteinen und Muscheln, die sorgsam auf den Stufen verteilt worden waren, über die sich ein Wasserfall ergoss. Le Nôtre hätte auf sein Werk nicht stolzer sein können. Wenn hier die Tänzer die Bühne betraten, wurden goldene Kandelaber auf den Konsolen entzündet, das hinter dem Wasserfall verborgene Orchester begann zu spielen, und die Anwesenden fühlten sich in eine andere Welt versetzt.
Le Nôtre führte seine Nichte mitten auf die Bühne und ließ dort ihre Hand los. Nathalie drehte sich einmal um ihre eigene Achse und lauschte ihren Schritten auf dem Marmor, sog den Duft der aromatischen Kräuter ein und wurde der längst verstummten Musik an diesem Ort gewahr. Sie stellte ihn sich genauso vor, wie ihn ihr Onkel beschrieben hatte.
»Warum wolltest du so dringend hierherkommen?«
In ein Tuch eingeschlagen, hatte sie die Muschel mitgebracht und zeigte sie ihm nun.
»Ich musste sie herbringen. Ihr Platz ist hier.«
»Woher hast du sie?«
»Matthieu hat sie mir anvertraut.«
Der Gartenbaumeister schwieg kurz, um sich an der Zärtlichkeit zu laben, die seine Nichte jedem Wort verlieh.
»Gib sie mir«, bat er sie, ohne weitere Fragen zu stellen. »Ich suche ihr ein Plätzchen am Wasserfall.«
»Darf ich sie selbst dort hinlegen?«
»Dann wird doch dein Kleid ganz nass.«
»Bitte …«
Nach kurzem Zögern fasste er sie am Arm, und sie stiegen gemeinsam in den Teich. Onkel und Nichte beugten sich hinab, um das Schneckenhaus vorsichtig zwischen die anderen Muscheln zu platzieren.
»Ich hole Mörtel, um sie am Stein zu befestigen«, sagte Le Nôtre.
»Kann ich noch eine Weile hierbleiben?«
»Das Wasser ist doch viel zu kalt.«
»Ich wünsche es mir so sehr.«
»Dann versprich mir aber, dass du bald herauskommst.«
Sobald ihr Onkel sich auf dem Pfad entfernte, lehnte Nathalie sich an eine Stufe der Kaskade, als sei auch sie nur eine jener Statuen, die die Teiche von Versailles zierten. Ihr Kleid sog immer mehr Wasser auf, bis es ihr schließlich völlig durchnässt am Körper klebte. Sie legte den Kopf an die Muscheln und spürte, wie Matthieu sich bei ihr bedankte.
»Wo bist du nur?«, sagte sie laut.
Dann lächelte sie. Keine Entfernung dieser Welt konnte ihnen die göttliche Vertrautheit nehmen, die sie für immer verbinden würde, seit sie gemeinsam dem Flügelschlag des Schmetterlings gelauscht hatten.
Nathalies blondes Haar glänzte im Wasser.
Wie die Strahlen einer neugeborenen Sonne, wahr und rein.
Matthieu verspürte eine Liebkosung, als hätte ihn ein Engel gestreift. Er schloss die Augen und seufzte tief. Der Kiel zerpflügte in einer perfekten Linie den ruhigen Ozean. Und wieder Wind und Salz, dieses Mal brannten sie aber nicht auf den Wangen wie bei seiner ersten Schiffsreise. Seit der Nacht der Spiegel war sein Körper wie aus Marmor.
Lunas letzter Atemzug hatte die Geräusche in seiner Umgebung in Pfeile, Gift und Nesseln verwandelt. Er konnte die Laute nicht ertragen, die durch das Gitter aus dem Garten hereindrangen, das Knirschen der Glasscherben unter den Schritten, das kieksende Weinen der Herzoginnen. Nicht einmal das Wehklagen eines Stuhles, den man beiseitezog, oder das einer Tür, die sich öffnete. Er wollte sterben, um nichts mehr hören zu müssen, hatte ihr jedoch geschworen, es nicht zu tun. Er hielt die Priesterin weiter im Arm und versuchte, keinen anderen Laut mehr zu hören außer der Melodie, die noch in ihrer Brust nachhallte, bis Onkel Charpentier ihm schließlich zuflüsterte, dass es an der
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