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Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Das geheime Lied: Roman (German Edition)

Titel: Das geheime Lied: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrés Pascual
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Zeit war zu gehen. Dann stand er auf, hob Luna wie ein schlafendes Kind auf und legte sie auf die Pritsche in der Wandnische. Er küsste sie auf die Stirn, auf die vollen Lippen und die Lider, drehte sich um und ging auf den Ausgang zu.
    Wohin wird dich dein Weg nun wohl führen?, fragte sich Charpentier in diesem Moment.
    Zur Stille der Algen und Korallen, antworteten ihm Matthieus Gedanken.
    Er bat seinen Onkel, sich Lunas makellosem Körper anzunehmen, ihr die Kupferhaut zu säubern und das Haar zu kämmen und sie neben Jean-Claude zu begraben. Ohne ein weiteres Wort verschwand er im Gang und stieg die Treppe hinauf. Er durchquerte die Säle des Palastes, bis er einen Ausgang fand. Draußen sprang er hinten auf die nächste Kutsche nach Paris. Dort angekommen, bestieg er nacheinander eine Reihe von Pferden, die ihn nach La Rochelle brachten, wo er auf dem erstbesten Schiff anheuerte, das Matrosen brauchte. Seit dem Auslaufen freuten sich die Albatrosse, die Delphine am Schiffsrumpf und die echten oder der Fantasie entsprungenen fliegenden Fische über das Wiedersehen mit ihm und versuchten, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Er jedoch erfüllte seine Aufgaben, ohne je den Blick vom Tau abzuwenden, das er aufschoss, außer in jenem Augenblick kurz vor Sonnenuntergang. Jeden Abend trat er zu dieser Stunde an die Reling, starrte zum Horizont und wartete darauf, die imposante Victoire näher kommen zu sehen, mit Misson am Bugspriet und einer neuen Luna hinter dem Besanmast.

Opéra Garnier, Paris
1. September 2010, 21.08 Uhr
    Fasziniert betrachtete Michael Steiner das Manuskript, das ihm einige Minuten zuvor in die Hände gefallen war. Wie konnten vier simple Seiten bloß all diese Emotionen enthalten? Er hätte sich niemals vorgestellt, dass Ludwig XIV . sich auf seinem einsamen Sterbebett nicht wegen seiner lasterhaften Vergangenheit quälte, sondern weil er nicht genug Mut gehabt hatte, um die Zukunft zu verändern.
    Der Boden des Archivs vibrierte mit jedem Paukenschlag. Das Echo von Claude Debussys Dialog zwischen Wind und Meer drang zu ihnen herauf und erreichte auf der Bühne in diesem Moment seinen Höhepunkt. Michael sah hoch.
    »Der Sonnenkönig spricht davon, dass er kurz vor seinem Tod an nichts anderes mehr denken kann als an jene Nacht, in der jener geheimnisvolle Violinist sein erstes Unwetter komponierte. Wer war bloß dieser Matthieu?«
    Fabien Rocher konnte sich ein breites Lächeln nicht verkneifen.
    »Das weiß ich ehrlich gesagt auch nicht. Aber lies das Manuskript erst einmal zu Ende, dann verstehst du, warum ich es dir unbedingt zeigen wollte. Du wirst es kaum glauben, das kann ich dir versprechen.«
    Michael ließ den Blick ein paar Zeilen zurückwandern und las von diesem Punkt an weiter.
    Wie anders hätte mein Tod dann ausgesehen! Ich weiß, dass mir lediglich ein paar Stunden bleiben, bevor auf meinem Bett bloß ein Bündel totes Fleisch liegt, und ich denke nur noch zurück an die Nacht, in der du dein erstes Unwetter komponiert hast.
    Warum habe ich damals nicht begriffen, dass ich in einem Reich jenseits der Sonne für immer hätte regieren können? Wie konnte ich so blind sein und nicht einmal zulassen, dass meine Augen die Mondinsel erblicken? Wie naiv es doch war zu glauben, dass diese kleine Welt das Unendliche in sich einschließen kann! Welcher Gott, der etwas auf sich hält, hätte denn Interesse an dem Elend, welches uns das kurze Leben hier auf Erden bietet? Aus der Unermesslichkeit des Kosmos wird es doch kaum wahrnehmbar sein! Verfluchter Matthieu! Du bist im richtigen Moment erschienen, um mir zu verkünden, dass ein neues Zeitalter anbricht. Ich hingegen, der doch Macht über alles zu haben schien, hatte nicht den Mut, die Welt zu verändern. Ich erinnere mich nur zu gut an den Abend im Wintergarten, an dem du meine Orangenbäume umgeworfen hast. Damals erkannte ich in deinen Augen bereits die Erhabenheit eines Auserwählten. Du warst so voller Leben … wie ein Engel, der den Tod überwunden hat. Ich wandte jedoch den Blick ab und beschäftigte mich lieber weiterhin damit, Beinkleider aus der zartesten Seide anzulegen. Mein Ehrgeiz erschuf Dämonen im tiefsten Afrika, und dabei wurde ich nicht einmal dessen gewahr, dass mein Reich in Europa zu zerbrechen drohte, ich ließ Kunstwerke für Kanonen einschmelzen, die dann auf dem Schlachtfeld verrosteten … und habe deine Melodie nicht zu schätzen gewusst. Ein Lied aus reinem Gold, ohne eine Spur von Blei. Musik, die nichts als

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