Das geheime Lied: Roman (German Edition)
schwarze Stein und die Muscheln glitzerten jedoch regennass im Licht der Taschenlampe. Er legte die Funzel auf den Boden, trat näher und strich mit der Hand über eine der Schalen. Welche von ihnen war wohl die, die im Manuskript erwähnt wurde? Er stellte sich in die Mitte der Bühne und zog die Geige aus ihrer Hülle. Dann wischte er sich den feuchten Pony aus dem Gesicht und legte das Instrument in der richtigen Position an. Er sog den Mandarinenduft tief in sich ein, der noch am Aufschlag des Fracks haftete. Was er nun spielen würde, brauchte er sich nicht erst ins Gedächtnis zu rufen.
Die Melodie strömte sanft hervor.
Sie schien sich in den Himmel aufzuschwingen und dabei den Regentropfen auszuweichen.
Endlich frei nahm das goldene Band das Wäldchen ein und dann augenblicklich den ganzen Garten von Versailles. Genau wie damals am Abend der Spiegel schlängelte es sich über die Kieswege, schob sich zwischen Hecken und Abgrenzungen durch, wirbelte um Baumwipfel herum und hinterließ Kreise auf der Wasseroberfläche der Teiche. Nachdem es jeden einzelnen Winkel ausgekundschaftet hatte, folgte es in der Luft der Bahnlinie eines Vorstadtzuges und erreichte mit den Gleisen den äußeren Rand von Paris. Es glitt durch die Seine bis zur Cité, flog zwischen den Türmen von Notre-Dame hindurch und strich über die Kuppel der Saint-Louis-Kirche, bevor es sich in der ganzen Stadt ausbreitete.
In diesem Moment war das Konzert im Palais Garnier längst zu Ende, und die Herrscher der verschiedenen Länder hatten sich in ihre Hotels zurückgezogen. Die Melodie schlich sich durch jede Ritze im Gebäude ein, schwebte durch Lüftungsschächte und die Abzugsgitter der Küchen, durch halboffene Fenster und Schornsteine über den bourgeoisen Dachkammern. Und jeder, der sich an diesem Abend in der Stadt der Lichter befand, verspürte, dass etwas sein Herz rührte. Ein seltsamer Impuls bewog einige dazu, sich lange im Spiegel anzusehen, andere steckten den Kopf zum Fenster hinaus, weil sie plötzlich dachten, dass ihre Lungen noch ein wenig frische Luft vertragen könnten. Wieder andere saßen einfach nur auf der Bettkante und fragten sich, was bloß mit ihnen geschah, während sie mit plötzlichem Seelenfrieden die Person an ihrer Seite betrachteten.
»Der geheime Weg führt ins Innere …«, sagte sich einer, an die Glastür in seinem Zimmer gelehnt.
»In uns selbst liegen die Ewigkeit und ihre Welten, nirgends sonst …«, murmelte ein anderer, der auf die Feuertreppe hinausgetreten war.
»Vergangenheit und Zukunft«, schluchzte eine Frau, während sie darauf wartete, dass ihr Sohn in einem weit entfernten Land ans Telefon ging.
Michael hörte nicht auf zu spielen. Er strich mit dem Pferdehaar über die Saiten und entriss der Violine einzelne Wörter, die sich nach Gutdünken aneinanderreihten: der Ursprung, als wir nur Lehm waren, und die Liebe schlug die Augen auf, und der Tag wurde geboren, und sie schloss die Lider, und die Nacht wurde geboren, Matthieus Vergebung, die über den Tod hinaus einen rosa verfärbten Horizont vorzeichnete wie der Horizont in Afrika, die Partitur des Unwetters, völlige Harmonie, die immer näher kommt …
Er spürte, dass Rachels Seele sich von ihm entfernte, begriff aber gleichzeitig, dass er sie doch nicht verlor. Du bist noch immer bei mir!
Er hätte nicht glücklicher sein können.
Sie waren eins, für immer vereint.
Er hörte zu spielen auf und ließ die Arme sinken. Dann sah er zum Himmel hinauf, zur Mondinsel. Der Regen schlug ihm ins Gesicht.
»Vergiss nicht, auf mich zu warten, meine Liebste …«
Er legte sich nieder und rollte sich auf dem kalten Marmor zusammen. Sanft setzte er die Geige auf dem Boden ab. Die Stimme der Muscheln … Das Rauschen der Blätter im Wind … Tam … Tam … Tam … drang an sein Ohr, während sich die Violine mit dem Regenwasser des Sturms füllte.
Danksagung
I ch danke Montse Yáñez, weil sie mich vor Jahren in ihrer Agentur aufgenommen und unablässig daran gearbeitet hat, dass meine Geschichten den Globus bereisen, so wie es die Figuren darin tun.
Ich danke meinen Eltern, meinen geduldigen Korrektoren, die mit dem Bleistift in der Hand allzeit bereit waren.
Miguel und Esther, nicht nur aus Bruderliebe, sondern weil sie mir halfen, die Atmosphäre einzufangen, die Matthieu umgibt, als er den Strand von Fort Dauphin betritt.
José Manuel, einem Romantiker wie die Kapitäne alter Zeiten, für seine Unterweisung in den Lehren der
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