Das geheime Prinzip der Liebe
nicht zu Ende, nach so langer Zeit, ich würde weiter kämpfen müssen. Sie konnten einander irgendwo begegnen, ich konnte nicht alles unter Kontrolle behalten, am wenigsten den Zufall. Ich fühlte mich von allen Seiten bedroht und bedauerte, Annie nicht getötet zu haben.
Zumal das Urteil für eine solche Tat erst kürzlich gesprochen worden war. Auf der Flucht vor den Deutschen hatten Krankenschwestern Patienten getötet, die sie nicht transportieren konnten. Ich hatte den Prozess von Anfang an verfolgt. Ihr Anwalt hatte sich auf den »kollektiven Wahn« berufen, der Frankreich erfasst habe, ein Wahn, der
seiner Meinung nach geeignet war, verrückte und kriminelle Handlungen vielleicht nicht zu entschuldigen, aber doch zu erklären. Und die Richter waren seinen Argumenten gefolgt, indem sie mildernde Umstände zuerkannten und die mörderischen Krankenschwestern nur zu Bewährungsstrafen verurteilten. Dafür hätte auch ich Annie eine hochdosierte Sedolspritze geben sollen, das hätte mich nichts gekostet, und heute hätte ich meinen Frieden. Mein Gott, den Frieden, nicht den Frieden Christi, nur den Frieden der Seele, das war alles, was ich anstrebte, zur Not auch ohne ruhiges Gewissen.
Die Schlinge zog sich rasend schnell zusammen. Wenige Tage nach diesem Abend bekam ich einen Anruf von dem Burschen, den ich für die Überwachung von Louis bezahlte. Sein Kollege. Ein gewisser Maurice, kein schlechter Kerl, der aber Geld brauchte und sich nichts Böses dabei dachte, mir zu sagen, dass Annie plötzlich im Postamt aufgetaucht war und dass Louis »verstört« wirkte.
»Danke, Sie erhalten Ihren Umschlag postlagernd. Informieren Sie mich, wenn sie sich wieder treffen.«
Das konnte kein Zufall sein. Annie musste etwas im Sinn führen, man taucht doch nicht einfach so auf. Louis würde durchschauen, dass ich ihn belogen hatte, dass sie nicht verheiratet war. Sie würden kommen und mir Camille wegnehmen.
Am nächsten Tag kam ein neuer Anruf.
»Guten Tag, Madame.«
»Nun?«
»Louis hat mit seiner Freundin Schluss gemacht, ich dachte, das könnte Sie interessieren.«
»Ich bezahle Sie, um zu erfahren, ob Ihr Freund sich mit
Annie trifft, nicht um mir irgendwelche Belanglosigkeiten zu erzählen. Versuchen Sie nicht, mich auszunutzen.«
Ich knallte den Hörer hin.
So war das also! Sobald dieses Mädchen irgendwo wieder auftauchte, waren alle anderen vergessen . Stand mir dasselbe bevor, falls Paul sie wiedersah?
Ich wartete. Trotz der scheinbaren Ruhe wusste ich, dass der letzte Akt unwiderruflich begonnen hatte. Ich machte mir nichts vor, es war die Ruhe vor dem Sturm, die Brandungswelle. Das musste ein Ende haben. Jede Geschichte hat eine Auflösung. Ich kam mir vor wie ein einsamer Wachposten in einer riesigen Festung. Hektisch rannte ich von einem Turm zum anderen, Norden, Süden, Osten, Westen, ich wollte nicht vom Feind überrascht werden. Ich musste immer eine Länge Vorsprung behalten.
»Hallo?«
»Louis und Ihre Annie haben gestern Abend zusammen gegessen, sie wurden wegen der Ausgangssperre verhaftet, aber heute früh wieder entlassen. Sie haben gerade hier gefrühstückt und das Haus verlassen. Hallo? Hallo?«
»Ja, ich bin da. Beeilen Sie sich, ich kann nicht Stunden am Telefon verbringen.«
»Annie wohnt Rue de Turenne 17. Sie ist Verkäuferin in einem Farbenladen. Ehrlich, das Mädchen ist bildschön.«
»Das ist Ihr Geschmack, keine Information. Erzählen Sie lieber, was sie heute Nacht gemacht haben.«
»Ich sagte es Ihnen doch, sie haben die Zeit verpasst und wurden wegen der Ausgangssperre verhaftet.«
Falsch. Ich stellte mir vor, wie sie gegen mich aussagten, der Polizei alles erzählten. Sie würden kommen und mir Camille wegnehmen. Ich legte auf. Vielleicht hielt ich den Hörer zu lange in der Hand. Ich starrte die Derringer an,
die wieder an der Wand bei den anderen Waffen der Sammlung hing.
»Wer war das?«
Paul stand im Türrahmen, ich drehte mich um und ließ den Hörer los.
»Nichts Wichtiges.«
Ich sah, dass er mir nicht glaubte. Das kümmerte mich nicht . Ich hatte keine Zeit mehr. Ich musste mich verteidigen. Sie würden kommen, mir Camille wegnehmen. Ich rannte los, holte meinen Mantel.
»Wohin gehst du?«
»Besorgungen machen.«
»Wir sind doch mit den Pasteaus verabredet.«
»Ich bin rechtzeitig zurück.«
Ich ging mit Camille los. Durfte mich um keinen Preis von ihr trennen .
Ich verstand gar nichts. Annie wohnte nicht Rue de Turenne 17. Sie wohnte im Étoile du
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