Das geheime Prinzip der Liebe
verfolgen, um mir seiner sicher zu sein.
Annie hatte N. verlassen, sie konnte jederzeit hier auftauchen. Und was wäre, wenn Paul und sie Hand in Hand zurückkämen, um mir Camille wegzunehmen? Hat es sie wirklich gegeben, die verrückten Frauen, die nach Deutschland gefahren sind, um ihren gefangenen Liebsten zurückzuholen?
Wir kamen mit Verspätung zum Marionettenspiel. Ich setzte Camille auf die vordere Bank und ließ sie allein, während ich eine Eintrittskarte holte. Camille war gerade ein Jahr alt geworden. Der Kiosk war nur einige Schritte entfernt. Auf dem Rückweg erkannte ich Annies Gestalt hinter einem Baum. In ihrem Gesicht las ich die gleichen Regungen wie bei Camille , sogar ihrem Lachen passte sie sich an . Kinder lachen aus der Brust heraus, wie ein Schrei, Erwachsene aus der Kehle, wie ein Seufzer, und wenn sie auf die Idee kommen, wie Kinder zu lachen, werden sie kalt angeschaut, damit sie sich beruhigen. Ihre Profile waren für mich unerträgliche Spiegelbilder. Sie lächelten auf die gleiche Art . Zum Glück wird eine Verwandtschaft niemals an einem Lächeln festgemacht. Ich setzte mich wieder neben Camille, so ruhig wie möglich, tat, als würde ich mit ihr über das Missgeschick des armen Kaspers lachen. Ich weiß nicht, ob Camille gespürt hat, wie ich die Hand besitzergreifend auf ihren kleinen Arm gelegt habe.
Am Ende der Vorstellung setzte ich Camille in ihren Wagen und zählte bis zehn. Ich wusste, wenn ich wieder hoch blickte, würde sich Annie schon abgewandt haben, sie würde nicht ewig bleiben, nun, da sie das Objekt ihrer Liebe nicht mehr sehen konnte.
Ich hatte es geahnt, es war nicht das erste Mal, dass sie sich versteckt hielt, um Camille zu sehen, denn ihre Haltung hatte die Sachlichkeit, die Ruhe der Gewohnheit.
Sie verfolgen. Der Spionin nachspionieren wie der betrogene Betrüger. Sehen, wohin sie geht. Mit etwas Glück herausbekommen, wo sie wohnt, wo sie arbeitet. Sie orten, so wie man mit Erleichterung die Wurzel einer bösen Krankheit entdeckt, deren Ursprung man lange gesucht hat.
Je weiter wir die Straßen entlanggingen , desto unsicherer
wurde ich. Annie war auf dem Weg zu uns nach Hause, das war eindeutig. Darauf war ich nicht gefasst, ich überlegte, wie ich mich wehren sollte, ich wollte keinen Streit in Camilles Beisein. An der Kreuzung der Straße, die in unsere mündete, verlor ich sie plötzlich aus den Augen. Zuerst glaubte ich, dass sie meine Verfolgung bemerkt und die Flucht ergriffen hatte. Dann aber blieb mein Blick zitternd und fasziniert an einem Blickfang in der Ebenmäßigkeit der Fassaden hängen, an der großen Laterne, die das Étoile du Berger überragte.
Wenige Meter vor mir, auf derselben Straßenseite: auf den ersten Blick eine Kunstgalerie, in Wirklichkeit ein Bordell.
Ich ging daran vorbei. Wenn in diesem Moment die Welt untergegangen wäre, hätte es mich auch nicht gewundert. Annie war eine Hure! Alle Blicke der Passanten wiesen auf mich . Alle Finger streckten sich nach mir aus. Die Münder verzogen sich. Sogar die Geräusche um mich herum waren verzerrt. Halt, ich war es nicht! Sie hat selbst entschieden. Sie hätte auch eine andere Wahl treffen können. Ich war es nicht. So ist das Leben. Ich kann nichts dafür. Sie wollte eine Hure sein, das war ihre Entscheidung. Vielleicht hat sie das im Blut, nein, nicht im Blut, Camille, o Gott … Im Körper.
Aber diese Verstimmung, dieses Schuldgefühl hielt keine Stunde lang an. So brutal, wie ich mich gegeißelt hatte, fing ich an zu jubeln, erleichtert wie noch nie. Jetzt war Schluss! Wirklich Schluss. Sie hatte die Möglichkeit verspielt, mir zu schaden. Nun würde sie mir Camille nie mehr wegnehmen können. Indem sie ihren Stolz als Frau zu Geld machte, hatte sie ihren Stolz als Mutter verloren . Sollte sie eines Tages kommen, um meine Tochter zu verlangen, würde ich
wissen, wie ich sie empfangen würde, ich würde ihr sagen, dass man nicht Mutter und Hure zugleich sein kann.
Und Paul wäre vielleicht mit der Bauerntochter weggegangen, aber nicht mit einer Schlampe. Noch schlimmer, mit einer Schlampe für Deutsche. Nur für Offiziere. Sie hatten das Étoile du Berger beschlagnahmt.
Wie hatte sie sich so erniedrigen können, dieses Etablissement zu betreten? Weil sie um unser Haus herumgeschlichen war? Wegen der Gemälde im Schaufenster, die sie angelockt hatten? Wusste sie, was das war? Dass eine Verkäuferin im Negligé den Vorhang öffnen würde? Vielleicht hatte sie bei ihrem
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