Das geheime Prinzip der Liebe
Anblick gedacht: Warum nicht? Resignieren. In der Nähe von Camille, Louise, bleiben, einen Unterschlupf finden. Der Winter war so entsetzlich gewesen. Sich satt essen. Geld für Kleider haben . Und von den Kohlen profitieren, an denen es für ihre Kunden nicht mangeln würde.
Nun, da ich Annie nicht mehr fürchtete, tat sie mir leid.
Jeden Tag suchte ich den Horizont ab, und jeden Tag sah ich sie irgendwo lauern. Hinter einem Baum, auf einer entlegenen Bank, die Augen immer auf Camille geheftet . Ich hatte gezögert, wieder zum Park der Champs-Elysées zu gehen, aber wozu? In jedem beliebigen Park, in den ich Camille zum Spielen führte, würde sie uns finden, das wusste ich. Sie würde uns folgen, wohin ich auch ging. Paris zu verlassen würde nichts ändern. Sie würde Camille niemals aus den Augen verlieren. Und keine Stadt, kein Dorf konnte mich so gut schützen wie Paris. Gewisse Dinge halten sich nur in den Hauptstädten, sie ertränken, ersticken die Probleme, vernichten das Natterngezücht . So weitermachen, nichts ändern. Annie hatte sich in der Prostitution verfangen. Ich würde ihr gewiss nicht helfen,
da herauszukommen, indem ich wegfuhr. Irgendwann habe ich mich daran gewöhnt, dass ihr Schatten in meiner Umgebung herumspukte. So wie mich das Kreisen der deutschen Flugzeuge Tag und Nacht daran erinnerte, dass selbst der Himmel uns nicht mehr gehörte, erinnerte mich das Kreisen von Annie daran, dass meine Tochter nicht ganz und gar mir gehörte. Aber ich hatte keine Angst mehr vor ihr, in ihrer Situation konnte sie nichts unternehmen. Wir waren wie zwei Feindinnen, die vergeblich die Achillesferse der anderen suchten. Im Grunde hatten wir dieselbe, aber wir konnten sie nicht nutzbar machen, ohne uns selbst ins Unglück zu stürzen: Es war Camille.
Bevor ich entdeckte, dass Annie sich prostituierte, hatte ich überhaupt nicht auf die Deutschen geachtet. Ich hatte gelassen und stolz zugeschaut, wie sie unsere Truhen geöffnet und uns alles genommen hatten. Hochmütig sah ich über sie hinweg und wählte meine Spaziergänge und meine Freunde mit Anstand und Würde aus. Ich war nicht im Widerstand, das nicht, aber voller Widerwillen.
Später ließ ich mich darauf ein, ihre Feste, eine Ausstellung von Arno Breker, ein Konzert im Palais de Chaillot zu besuchen, ich lud sie sogar in mein Haus zum Essen ein. Ich verstehe, dass es nicht zu entschuldigen ist, aber ich hatte Angst, dass Annie ihren Charme ausnutzt, um einen Offizier zu verführen und mir so Camille wegzunehmen. Für diesen Fall musste ich gewappnet sein. Ich brauchte auch Beschützer, Beziehungen. Um im Bedarfsfall zurückzuschlagen, musste ich kapitulieren. Für Camille bin ich zum Feind übergelaufen. Für Camille war ich zu allem bereit. Wie oft bin ich nachts aufgewacht, weil mir die lebendige, überwältigende Liebe zu diesem Kind die Kehle zuschnürte.
Paul hat es nie verstanden, und ich habe mich nie rechtfertigen können. Zumindest habe ich ihm einen guten Grund geliefert, eine Entschuldigung dafür, dass er mich nicht mehr liebte. Seine Frau, eine Verräterin. Eine Kollaborateurin. Wie konnte ich ihm das antun? Ihm. Während er in Gefangenschaft war. War mir eigentlich klar, was ich getan hatte? So mit dem Feind zu paktieren? Der auch Sophie verschleppt hatte? Das hätte mich auch nicht gestört? Hatte ich denn niemals an Verrat gedacht?
Nicht diese Frage!
Kalt hatte ich ihm in die Augen geschaut, es war Zeit, dass wir beide uns alles sagten. Er wollte über Verrat sprechen, also würden wir über Verrat sprechen . Aber er kreiste um mich, fuchsteufelswild, von seiner Idee besessen.
»Erzähl mal, mit welchem hast du geschlafen? Oder vielleicht mit welchen ?«
Wie konnte er es wagen! Er stand hinter mir, ich drehte mich um, und im selben Schwung, wie aufgezogen , ohrfeigte ich ihn so stark, so genau, so präzise und ungebremst, dass meine Hand ihr Ziel erreichte, als hätte mein Körper während all der Jahre den Spielraum dieser Geste berechnet, damit sie sicher und heftig trifft.
Paul war am 20. August 1942 zurückgekommen. Camille war etwas über zwei Jahre alt. Ich rechnete nicht damit. Das Telefon klingelte. Er war in Compiègne, sein Zug war gerade eingefahren. Plötzlich seine Stimme, ebenso undenkbar wie die Vorstellung, wieder an seiner Seite zu leben. Der Gefangenenaustausch. Pierre Etienne Laval hatte diese Initiative inszeniert, die zu nichts führte, aber Paul zurückbrachte. Die Chance lag bei eins zu tausend
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